EM in den USA: Eine kleine verrückte Welt

Washington (dpa) - Auf den Straßen sieht man viele knallrote Trikots. Den Dänen drückt hier aber keiner die Daumen. Die meisten Baseballfans der Washington Nationals dürften kaum wissen, dass Fußball-Europa gerade durchdreht.

Doch es gibt auch in den USA Anhänger - man muss nur suchen.

Mit dem Öffnen der Tür tut sich eine andere Welt auf. Sehr begeistert, fast schon ein bisschen verrückt ist sie. Zumindest heute. Draußen haben Fahnen an der Hauswand bereits angekündigt, was gleich kommt: Eine große Portion Deutschland - oder das, was Amerikaner gemeinhin für Deutschland halten. Bayerische Blasmusik tönt durch die Boxen, volle Biergläser werden auf großen Tabletts über Holzdielen balanciert. Viel Weiß ist zu sehen und viel Schwarz-Rot-Gold.

„Lukas Podolski!“ schallt es vom Hinterhof in das Restaurantgebäude. Der Sportsender ESPN, der sich den ehemaligen Nationalspieler Michael Ballack als Experten geangelt hat, gibt gerade die Aufstellung durch. Deutschland gegen Dänemark, zwei Beamer projizieren das Grün des Stadions auf die Wand. Kein alltägliches Bild in der US-Hauptstadt Washington.

Während auf den Straßen und im Fernsehen fast nichts zu spüren ist von der Fußball-Europameisterschaft, gibt es vereinzelte Oasen, die für einen Tag zur Heimat für Fußballfans aus der ganzen Welt werden. Bei Deutschland-Spielen ist das Biergartenhaus besonders beliebt. „Wir haben 2010 am ersten WM-Spieltag geöffnet“, sagt der Manager Ali Amarcool. „Um 7 Uhr morgens wurde das Spiel übertragen, um 6 Uhr standen 400 Leute vor unserer Tür.“

Die Nationalhymne wird lauthals mitgesungen. Gänsehaut-Atmosphäre. „Der nächste Biergarten ist in New York, und die Amis lieben das deutsche Essen und die typische Atmosphäre, deswegen sind wir so voll“, sagt Sissi Humpherey. Die Kellnerin kam vor drei Jahren aus Bayern in die USA, aber an ihrem Arbeitsplatz merkt sie nicht viel davon. Hier wird viel Deutsch gesprochen. „An den Spieltagen sind 90 Prozent der Zuschauer Deutsche. Da verkaufen wir besonders viele Schweinshaxen und Bratwurstplatten.“ Und natürlich Bier.

Viele Amerikaner waren in Deutschland stationiert und suchen, zurück in der Heimat, gerne Orte auf, die sie an diese Zeit erinnern. In Washington leben zudem viele Deutsche. „Ich war überrascht von der großen deutschen Gemeinde, die es hier gibt“, sagt der Stuttgarter Ingenieur Oliver Broichhaus. „Und dass ein Biergarten so populär ist, wundert mich auch.“

Am Nachbartisch, mit Deutschlandtrikot und schwarz-rot-goldenem Campinghut, sitzt Kim Heiler. Die 20-Jährige ist als Au-Pair in Washington. „So weit weg von meiner Heimatstadt Heilbronn ist das schon echt cool, so eine Heimat-Atmosphäre zu erleben“, sagt sie. Auch Tobias Arff genießt dieses Gefühl. Seit neun Jahren lebt der Hotelmanager mit seiner Familie in den USA. Dass auf der Speisekarte keine norddeutschen Spezialitäten stehen, stört den Bremer nicht weiter. Schnitzel und Hackbraten schmecken. „Bei der WM war natürlich noch mehr los, aber das ist insgesamt einfach toll hier“, sagt er.

Ein Stockwerk höher, auf der Dachterrasse, wird das deutsche Team weniger laut angefeuert, es springt auch keiner von seinem Stuhl auf und fällt sich mit anderen Fans in die Arme - wie es unten der Fall ist. Der Anteil der amerikanischen Fußballfans übertrifft auf dem Sonnendeck den der Deutschen, das merkt man. Unten tröten Vuvuzelas, Fahnen werden geschwenkt. Die Menschen oben geben ein freudiges „yes!“ von sich, dann gilt die Aufmerksamkeit wieder dem Essen.

Es ist eine Vorbereitung auf das, was nach dem Spiel passiert. Während im Biergartenhaus die letzten Weizen-Gläser geleert und die bayerischen Spezialitäten aufgegessen werden, sieht die Welt draußen ganz anders aus. Weniger begeistert und recht normal. Fußball? Keine Ahnung. Aber die New York Yankees haben die Washington Nationals 4:1 geschlagen. Das rote Trikot bleibt jetzt erst einmal im Schrank.