Fankult und „Quatsch-Hymnen“
Berlin (dpa) - Während sich die Fußballer vor der Europameisterschaft in Frankreich noch durch Trainingseinheiten und Interviews quälen, sind die neuen Anwärter auf den Fußballsong des Sommers längst eingespielt.
In Zeiten, in denen jeder Provinzverein seinen eigenen Song hat, bekommt jedes große Turnier seine eigene Hymne - den offiziellen Track zur EM 2016, „This One's For You“, hat Star-DJ David Guetta zusammen mit Zara Larsson geliefert. Befeuert vom Fußballverband Uefa und den Sponsoren, ist der Soundtrack zur EM 2016 wieder einmal auch das Produkt wirtschaftlicher Interessen. Doch reicht das, um einen Hit zu landen? Was macht einen Fußballsong aus?
Philipp Köster ist Deutschlands Vorzeige-Fußballnerd. Der Chefredakteur des Magazins „11 Freunde“ sagt: „Ein guter Fußballsong muss stadiontauglich sein, also einfach mitzusingen und nicht zu platt, und er muss das Mitleiden und die Treue als Fußballfan prägnant und selbstironisch auf den Punkt bringen.“ Anforderungen, an denen viele Lieder scheitern, wie Köster findet: „Wenn man sieht, was zur EM oder WM an Müll produziert wird...“
Sofort in den Sinn kommen ihm etwa die Schlagersongs der deutschen Nationalmannschaft, meist mit erwartbaren Wortspielen wie „Wir sind schon auf dem Brenner, wir brennen schon darauf“ (Udo Jürgens vor der WM 1990). Das sei zwar kultig, mittlerweile gehe es aber auch anders: „Selbstironisch, mit zeitgemäßem Beat und locker-flockiger Melodie“, sagt Köster. „Die Hymne, die das ausgelöst hat, war "Football's coming home" von Baddiel, Skinner & Lightning Seeds zur EM 1996.“ Auch die Chelsea-Hymne „Blue Day“ falle in diese Kategorie.
Zehn Jahre nach „Football's coming home“, in dem Gastgeber England seine chronische Erfolglosigkeit auf die Schippe nahm, schmachtete halb Deutschland zur Sommermärchen-WM 2006 Xavier Naidoos „Dieser Weg“. Mit Schuld daran: Gerald Asamoah. Als „Kabinen-DJ“ war der Schalker für die musikalische Vorbereitung zuständig. „Anfangs war es so, dass in der Kabine jeder mal seinen iPod draufstecken durfte. Bei einem Mittagessen im Trainingslager kam dann Jürgen Klinsmann und sagte: "Asa, ab heute machst du den DJ"“, erzählt der 37-Jährige.
Den Naidoo-Song suchte Asamoah auch als Teambuilding-Maßnahme aus. „Wir waren damals ehrlich gesagt noch nicht so ein Team, wir waren dabei, eine Mannschaft zu werden. Dazu passte dieses Lied“, sagt er. Und weil Fußballer abergläubisch seien, durfte der Track nach einigen erfolgreichen Spielen bleiben.
Allerdings: Die Zeiten, in denen die Nationalspieler gesungen haben, waren auch 2006 schon vorbei. Asamoah hält ein Comeback der DFB-Songs aber für möglich. „Ich fand das süß. Ich fand das immer lustig, wie die da mit ihren Schnäuzern vorm Mikro standen. Ich kann mir auch vorstellen, dass das wiederkommt und die Spieler singen. Dass Boateng sehr gut rappen kann, hat man ja letztens gesehen.“ Auf dem Münchener Rathausbalkon hatte Jérôme Boateng kürzlich als Beatboxer begeistert.
Beim offiziellen EM-Song der ARD, „Jeder für jeden“ von Herbert Grönemeyer und Felix Jaehn, sollen die Nationalspieler immerhin ein Mitspracherecht gehabt haben - zu hören sind sie nicht. Bundestrainer Jogi Löw gab ohnehin zu Protokoll, einen ganz anderen Musikgeschmack als seine Spieler zu haben. „Die hören Musik, die ich nicht lange ertragen könnte“, sagte Löw der „Bild“. Er selbst höre gerne Sarah Connor und Rosenstolz. Kabinenmusik sei sicher trotzdem noch möglich, sagt Asamoah, der Löw als Co-Trainer kennengelernt hat. „Die Trainer begrüßen das. Jogi wird der letzte sein, der sagt: Keine Musik mehr.“
Immerhin nach dem WM-Titel 2014 sang die DFB-Elf bereits Deutsch-Pop: „Atemlos“ von Helene Fischer - vor dem Brandenburger Tor, an der Mutter aller Fußball-Partymeilen. Fußball war endgültig Mainstream geworden, und für die Masse gab's Musik zum Mitgrölen. Auch zur EM 2016 werden in Berlin wieder Hunderttausende Fans erwartet. Mehrere DJs eines Radiopartners legen auf.
Neu ist diese Verbindung von Kommerz, Musik und Fußball nicht. Wer hat zum Beispiel nicht noch Franz Beckenbauers säuselndes „Gute Freunde kann niemand trennen“ im Ohr? Um einen WM-Song von 2010 entspannte sich sogar eine politische Debatte, weil der somalische Sänger K'naan auf Wunsch von Coca Cola einige kritische Textstellen gegen fröhlichere austauschte. In der soften Version lief der Song des WM-Sponsors beim Turnier in Südafrika dann auf Dauerrotation.
„11 Freunde“-Chef Köster ist dennoch sicher: „Die Fans merken, was ins Stadion passt, und lassen sich keine Quatsch-Hymnen mit irgendwelchen Marketingaktionen dahinter vorschreiben.“ Ihm ist wichtig, dass ein Song das Herzblut der Fans anspricht. Sein Geheimtipp: Diego Maradona, der andächtig Rodrigos „La mano de dios“ schmettert - einen Song über eine gewisse „Hand Gottes“.