Gütesiegel Weltklasse bleibt - neuer Reiz: Pech ausschließen
Marseille (dpa) - Es war noch enorm viel Frust dabei, als Joachim Löw und seine erschöpften Spieler nach einer unruhigen Nacht in drei Maschinen den Ort der bitteren Niederlage verließen.
Auf den Flügen nach Düsseldorf, Frankfurt und München beschäftigte die enttäuschten Protagonisten weiter die Frage, die auch 30 Millionen Fernsehzuschauer in Deutschland immer noch quälte: Wie konnte der Fußball-Weltmeister dieses Spiel gegen den EM-Gastgeber Frankreich trotz deutlicher optischer Dominanz 0:2 verlieren?
„Einmal ist man oben. In einem anderen Spiel kommen Dinge zusammen, die nicht positiv sind: Ausfälle, vergebene Chancen“, fasste der Bundestrainer den aufregenden Halbfinal-Abend im Stade Vélodrome im Telegrammstil zusammen. Trotz des Ärgers über den geplatzten Traum vom Titel-Double und des ersten EM-Triumphes nach 20 Jahren sieht Löw nach einem Mammut-Turnier mit mehr Licht als Schatten keinen Veranlassung für grundsätzliche Korrekturen. Auch wenn es wie nach dem grandiosen WM-Erfolg vor zwei Jahren in Rio mit großer Wahrscheinlichkeit auch personelle Einschnitte geben muss.
Kapitän Bastian Schweinsteiger (31) wollte sich unmittelbar nach dem Schock durch die Treffer von Frankreichs neuem Superstar Antoine Griezmann nicht festlegen. Die Zeit von Nationalspieler Lukas Podolski (31) scheint abgelaufen, auch wenn er an einen freiwilligen Rückzug nicht denkt. „Ich stehe voll im Saft“, meinte Podolski.
„Wir hatten nicht das notwendige Glück. Als wir 2010 und 2012 ausgeschieden sind, hatten uns die Mannschaften etwas voraus. Heute hatten wir den Franzosen etwas voraus“, sagte Löw, der ein wenig mit der Fußball-Gerechtigkeit haderte. Dass Schweinsteigers unglückliches Handspiel mit anschließendem Elfmeter der Partie gegen die erstarkten Franzosen ihre Richtung gegeben hatte, passte ins Bild. „Wir fahren jetzt heim und versuchen es in zwei Jahren wieder“, bemerkte der verletzte zweifache Turnier-Torschütze Gomez. Er wurde im Halbfinale noch scherzlicher vermisst als Mats Hummels und Sami Kdedira.
Löw selbst weigerte sich, unter den Emotionen des plötzlichen K.o-Schlags irgendwelche Zukunftsfragen zu beantworten. „Da sitzt der Stachel doch noch tief“, wich der 56-Jährige aus. „Wir haben im Vorfeld nicht darüber gesprochen, was wir machen, wenn wir verlieren.“ Der vier Wochen lang glücklose Stürmer Thomas Müller stellte nüchtern fest: „Nach einem Ausscheiden zu fragen, wie es weitergeht, ist eine der unfairsten Fragen, die man stellen kann.“
Dass Löw wie vertraglich vereinbart bis zur WM 2018 in Russland weiter arbeitet, steht nicht zur Disposition. „Bei ihm ist es einfach so: Die sechs Wochen sind auch für ihn eine sehr intensive Zeit. Ich weiß, dass er danach immer Kraft tanken will, ein bisschen Abstand bekommen will“, erklärte Teammanager Oliver Bierhoff. Er sah keinen Grund für Irritationen und Spekulationen. „Ich gehe davon aus, dass es so weiter geht.“
In ein paar Tagen will Löw mit seinem Stab eine „kurze Analyse“ des Turniers abhalten. „So viele Fehler habe ich jetzt nicht festgestellt. Es war eine tolle Mannschaft.“ In Frankreich hat der Turniertrainer Löw erneut bewiesen, dass er in kürzester Zeit mit intensiver Arbeit und taktischer Finesse seine auserwählten Spieler zu einem Team auf höchstem internationalen Niveau zusammenfügen kann. Zum fünften Mal in seiner Amtszeit führte er Deutschland mindestens in ein Turnier-Halbfinale - ein Gütesiegel.
„Wir sind nicht umsonst Weltmeister geworden. Wir haben genug Potenzial“, betonte Spielmacher Mesut Özil. Ganz schafften es der Bundestrainer und sein Team aber nicht, wie beim Triumph in Brasilien im entscheidenden Moment den besten Mix aus Dominanz, Leidenschaft und Abgeklärtheit auf den Rasen zu bringen.
Das hatte im stimmungsvollen Halbfinale nicht nur mit Glück und Pech zu tun. Dem Team 2016 mangelte es an erster Stelle an Effektivität, wie die nur sieben Treffer in sechs Spielen beweisen und die Torlosigkeit von WM-Torjäger Thomas Müller. Auch in der qualvollen EM-Qualifikation hatte das DFB-Team schon darunter gelitten. „Es hat vor allem einer gefehlt, der den Ball reinschießt“, urteilte Hummels.
Das Leistungsgefälle der eingesetzten 19 Akteure war bei der anstrengenden Frankreichtour größer als vor zwei Jahren. Mario Götze und André Schürrle, in Brasilien noch als Spezialkräfte zugleich Hauptdarsteller, fanden überhaupt nicht ins Turnier. Schließlich fehlte nach dem Italien-Kraftakt die Substanz, um die Ausfälle von Schlüsselspielern wie Hummels, Khedira, Gomez und dann auch noch Jérôme Boateng (verletzter Oberschenkel) im Halbfinale zu kompensieren. An diesen Punkten muss Löw arbeiten, um Pech mehr auszuschließen.
Schweinsteiger arbeitete sich mit enormen Fleiß nach schweren Knieverletzungen an das Team heran und konnte gegen Frankreich als Startelf-Spieler zumindest bis zu seinem ärgerlichen Handspiel seine Routine einbringen - das war eine Parallele zur WM in Brasilien. Den Esprit, die Stärke und die Ausstrahlung wie vor zwei Jahren verbreitete der ausgelaugte Profi diesmal nicht mehr.
„Ich bin dennoch stolz auf das, was wir erreicht haben. Wir sind unserem Stil, Fußball zu spielen, treu geblieben“, schrieb Schweinsteiger am Freitag in einem offenen Brief an die deutschen Fans, den der DFB veröffentlichte. „In den vergangenen sieben Wochen sind wir immer mehr als Team gewachsen“, betonte Schweinsteiger.
Fußball aber bleibt ein Ergebnissport. Die Ansprüche an das deutsche Team sind unter Löw die höchsten. „Am Ende bleibt nix. Wenn ich ein Turnier bestreite, will ich es gewinnen, sonst war es kein Erfolg“, sagte der Neu-Münchner Hummels schonungslos. DFB-Präsident Reinhard Grindel erklärte auch deshalb: „Nach dem Turnier ist vor dem Turnier, jetzt müssen wir unseren Titel 2018 in Russland verteidigen.“ Es wird schon bald auch eine reizvolle neue Aufgabe für Weltmeister Löw sein.