Italien droht frühes EM-Aus - Angst vor dem „Keks“
Posen (dpa) - Da sind sie also wieder, die Erinnerungen an diese vermaledeite Fußball-EM 2004. Antonio Cassano wollte nicht darüber sprechen, der Stürmer schlurfte wortlos an den wartenden Journalisten vorbei.
Er weiß, was ganz Italien nach dem unbefriedigenden 1:1 gegen Kroatien am Donnerstag umtreibt: die Angst vor dem Turnier-K.o., den die Azzurri aus eigener Kraft womöglich nicht mehr verhindern können. Viel mehr noch: Die Angst vor dem Aus trotz fünf Punkten und drei nicht verlorenen Gruppenspielen. Klingt unmöglich? Ist es nicht. Bei einem Remis im letzten Match der Kroaten gegen Spanien mit mindestens zwei erzielten Toren pro Team ist Italien auf jeden Fall draußen.
Exakt diese Konstellation wurde den Italienern schon vor acht Jahren zum Verhängnis - damals feierten Cassano und Co. im dritten Spiel einen 2:1-Sieg über Bulgarien, der wegen des parallelen 2:2 zwischen Schweden und Dänemark aber völlig wertlos war. Und in Italien schossen die „Wikinger“-Verschwörungstheorien ins Kraut.
„Es ist unmöglich, so etwas über die Spanier zu denken“, betonte Trainer Cesare Prandelli am Freitag. „Sie werden gegen Kroatien auf Sieg spielen. Wir müssen nur an uns denken und nicht nach Ausreden suchen“, sagte der Coach im Casa Azzurri in Krakau.
„Das wird nicht noch einmal passieren“, meinte auch Keeper Gianluigi Buffon, der schon 2004 das Tor gehütet und damals nach dem Aus über einen „Weltskandal“ geschimpft hatte. Im Vorfeld der laufenden EM meinte er dagegen über eine angebliche Ergebnisabsprache von zwei italienischen Zweitligisten in der vergangenen Saison: „Wenn zwei Mannschaften unentschieden spielen wollen, ist das ihre Sache. Manchmal sagt man: Zwei Verletzte sind besser als ein Toter.“
Am Abend nach dem Remis gegen Kroatien wirkte er in den Katakomben des Stadions von Posen sehr zuversichtlich. Buffon setzt alles auf die Spanier, appelliert an die Ehre der Weltmeister-Kicker: „In deren Team sind große Champions. Die wollen sich bestimmt nicht so einen Makel anhaften.“
Das findet zur großen Freude von Buffon auch Spaniens Trainer Vicente del Bosque, der von einer Ergebnisabsprache - in Italien „biscotto“ (Keks) genannt - selbstverständlich nichts wissen will. „Wir sind Sportsmänner und wollen gewinnen“, stellte der Coach klar.
Bleiben also noch die Kroaten, die sich nach dem erkämpften Remis gegen den viermaligen Weltmeister fast schon diebisch über die Tabellenkonstellation freuten. Angesprochen auf ebenjenes mögliche 2:2 im letzten Spiel am Montag (20.45 Uhr) sagte Ex-Bundesligaprofi Ivan Rakitic: „Ich will nicht rechnen. Aber klar wäre ein 2:2 ganz gut...“ Wolfsburgs Mario Mandzukic, der mit seinem dritten Treffer das 1:1 rettete (72. Minute) und immer mehr Kroatiens EM-Held wird, huschte auf die entsprechende Frage nur ein Lächeln über das Gesicht.
Die Italiener sind dagegen bedient. „Ich bin frustriert, weil wir den Sack nicht zugemacht haben“, klagte Prandelli, dem sogar ein Freud'scher Versprecher unterlief: „Wir haben gegen eine physisch bärenstarke Mannschaft verloren.“ Claudio Marchisio meinte: „Dabei hatten wir die Qualifikation für das Viertelfinale quasi schon in der Hand.“
Der Nationaltrainer hat die Gründe für den Punktverlust erkannt. „Ab der 60. Minute bauen wir ab“, analysierte er. „Uns fehlt weniger die Fitness. Es ist mehr eine mentale Sache. Außerdem müssen wir vor dem Tor viel entschlossener sein“, meinte Prandelli am Freitag. Schon in Halbzeit eins hätten sich die Italiener einen beruhigenden Vorsprung erarbeiten können - mehr als das sehenswerte Freistoßtor von Andrea Pirlo (39.) sprang aber nicht heraus.
Seit sieben Monaten hat Italien kein Spiel mehr gewonnen und in fünf Partien ganze zwei Tore geschossen. Die Angreifer bleiben Prandellis große Sorgenkinder. Mario Balotelli holte der Coach vom Platz, weil er seine taktischen Anweisungen nicht umsetzte: „Ich mag Mario, aber ich habe 15 Minuten lang geschrien“, kritisierte Prandelli.
Sein bis dato letztes EM-Tor erzielte Cassano übrigens vor acht Jahren an jenem dramatischen Abend in Portugal. Noch heute hat man in Italien die Szene vor Augen, in der der damals 21 Jahre alte Cassano in der Nachspielzeit den scheinbar erlösenden zweiten Treffer gegen Bulgarien erzielte, euphorisch zum Jubel ansetzte, dann vom 2:2 im anderen Match erfuhr und jäh zusammensackte. Unter Tränen wurde der stolze Stürmer damals in Guimaraes vom Platz geführt.