Last der Vergangenheit trübt Fußballfest Polen-Russland
Warschau (dpa) - Der Hitler-Stalin-Pakt, Katyn, Smolensk - die Liste polnisch-russischer Konfliktthemen ist lang und reicht weit in die Vergangenheit zurück. Auch wenn sich die Regierungen beider Länder um Versachlichung und Normalisierung bemühten - auf der Gefühlsebene liegt noch manches im Argen.
Ein Fußballspiel zwischen Polen und Russland ist daher noch immer kein Spiel wie jedes andere, wie am Dienstagabend bei der EM-Begegnung im Warschauer Nationalstadion zu sehen war. Und auch Extremisten auf beiden Seiten greifen nur allzu gerne auf den reichen Vorrat an negativen Stereotypen zurück, um Hassparolen zu schüren.
Schon lange, bevor auf den Straßen Warschaus die ersten Steine und Flaschen zwischen russischen und polnischen Hooligans flogen, hatten einige Medien die Hysterie geschürt. „Wacht auf!“ titelte das Wochenmagazin „Wprost“. „Wollt Ihr eine EM ohne Polen? Russland oder Tod!“ Im Warschauer Stadion prangte ein riesiges Transparent mit der Aufschrift: „Bóg, honor, ojczynzna“ (Gott, Ehre, Vaterland) - ganz so, als ging es nicht um Fußball und die Hoffnung der Weiß-Roten auf ein Vorrücken ins Viertelfinale, sondern um die Verteidigung des polnischen Nationalstolzes.
„Ich weiß nicht warum, aber wir drehen einmal mehr an der Hassspirale“, bloggte die einstige Torwartlegende Jan Tomaszewski im polnischen Internetportal Onet. „Wir schaffen mit aller Gewalt einen polnisch-russischen Krieg. Wozu denn bloß?“
Für die kahlgeschorenen, teilweise vermummten und oft reich tätowierten jungen Männer in Springerstiefeln und Kapuzenshirts, die diesseits und jenseits eines massiven Polizeiaufgebots nur darauf warteten, aufeinander loszugehen, war das EM-Spiel vor allem ein weiterer Anlass zu Gewalt. Ähnliche Gestalten hatten erst zwei Wochen zuvor beim polnischen Christopher Street Day versucht, Jagd auf Schwule zu machen. Ein Teil der polnischen Fußballszene, gerade der Hooligans, ist eng mit organisierten Neonazis verwoben.
Dass sich noch kurz vor den ersten Auseinandersetzungen polnische und russische Fans, darunter Familien mit kleinen Kindern, friedlich zusammen auf den Weg ins Stadion gemacht hatten, jeder mit seinen Nationalfarben und -fahnen, dass auf der Fanzone ähnliche Verbrüderungsszenen stattfanden wie zuvor mit den Griechen, ging angesichts der hässlichen Bilder von den Gewaltexzessen fast unter.
Die Gruppen älterer Polen, die den russischen Fans anklagend Stalin-Plakate entgegenreckten, die Rufe: „Das ist das freie Polen!“ machten aber auch deutlich: Antirussische Ressentiments gibt es nicht nur unter Hooligans. In Polen, das mehr als hundert Jahre von der Landkarte Europas verschwunden war, ist das Geschichtsbewusstsein ausgeprägt - und das Wissen, dass es die großen Nachbarn Deutschland und Russland waren, die den Polen immer wieder schweres Leid zugefügt haben.
Der Versöhnungsprozess zwischen Deutschland und Polen dauerte Jahrzehnte, inzwischen hält nur noch eine Minderheit an antideutschen Ressentiments fest. So gibt es mittlerweile keinen Streit mehr über den Nichtangriffspakt, in dem Nazi-Deutschland und die Sowjetunion die Aufteilung Polens vereinbart hatten.
Doch von staatlicher russischer Seite gab es bisher kaum eine Aufarbeitung der schwierigsten Kapitel der Vergangenheit - etwa die Morde an tausenden polnischen Offizieren durch den sowjetischen Geheimdienst in einem Wald bei Katyn, die Polen vom Europäischen Menschenrechtstribunal als Völkermord geahndet sehen will. Fünf Prozent der Polen glauben an ein russisches Mordkomplott bei der Flugzeugkatastrophe von Smolensk, bei der der damalige Staatspräsident Lech Kaczynski im April 2010 ums Leben kam.
Auch die Passivität der Roten Armee bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstands gegen die deutsche Besatzung im August 1944 weckt bis heute bei vielen Polen bittere Gefühle. Damals verblutete die Elite des Widerstands, während die sowjetischen Truppen am anderen Weichselufer verharrten. Der Verlust der polnischen Ostgebiete im heutigen Litauen, Weißrussland und der Westukraine durch die Beschlüsse von Jalta schmerzt die Polen bis heute. Da hilft es wenig, wenn russische Fans wie etwa der St. Petersburger Leonid betonen: „Was kümmert uns die Vergangenheit? Uns interessiert hier doch nur der Fußball!“