Löw: Bei einem Turnier bin ich in meiner eigenen Welt

Évian-les Bains (dpa) - Joachim Löw steht vor seinem fünften Turnier als Fußball-Bundestrainer. Die deutsche Nationalmannschaft hat unter der Regie des 56 Jahre alten Südbadeners bei EM- und WM-Endrunden immer mindestens das Halbfinale erreicht.

Foto: dpa

Die Krönung war der Titelgewinn bei der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien. „Ich habe jetzt gemerkt: man strebt immer wieder danach“, sagt Löw am Tag der Abreise des DFB-Teams nach Frankreich im Interview der Deutschen Presse-Agentur zu seiner EM-Zielsetzung. Sie heißt Titelgewinn.

Sie feiern nach der Europameisterschaft Ihr zehnjähriges Dienstjubiläum. Ist Bundestrainer ein Traumjob für Sie?

JoachimLöw: Es macht mir auf jeden Fall nach wie vor großen Spaß. Ich habe großen Antrieb, die Mannschaft und die Spieler zu entwickeln. Und 2014 habe ich den großen Erfolg bei der Weltmeisterschaft in Brasilien sehr genossen. Ich habe jetzt gemerkt: man strebt immer wieder danach. Es ist auch ein Teil des Antriebs und der Motivation, einen Titelgewinn zu wiederholen.

Wie gehen Sie damit um, in den kommenden Wochen in Deutschland - mal abgesehen von der Bundeskanzlerin - wohl der wichtigste Mensch zu sein? Sie können den Deutschen einen glücklichen EM-Sommer bescheren.

Löw: Auf dieser Ebene sehe ich mich nicht. Ich weiß natürlich, dass der Fußball ein wichtiger Teil ist in unserer Gesellschaft, in unserem Land. Ich weiß, dass Millionen Menschen daran teilhaben. Bei einem Turnier bin ich aber in meiner eigenen Welt, in meinem Tunnel. Da nehme ich wenig wahr, was von außen kommt. Das hat mit Erfahrung zu tun. Die vergangenen beiden Turniere war ich schon entspannter. Früher habe ich mehr wahrgenommen, was aus der Öffentlichkeit kam. Inzwischen mache ich mich frei davon.

Weil Sie für derlei Dinge keine Energie verschwenden möchten? Oder weil Sie sagen, ich kann es eh nicht ändern?

Löw: Ich weiß, heute noch mehr als früher, was bei einem Turnier passiert, welche Maßnahmen getroffen werden müssen, wie der Fokus auf das Wesentliche gelenkt werden muss. Ich weiß, was von außen kommt, zählt nicht. Als Trainer steht man in der Verantwortung und muss seine Entscheidungen treffen. Man muss den Blick auf das Wesentliche behalten, auf die Mannschaft, auf einzelne Spieler. Darauf kommt es bei einem Turnier an.

Das zehnjährige Jubiläum hatten wir schon angesprochen. Sie sind 56, Sie haben bereits die Weltmeisterschaft 2018 in Russland im Blick. Das klingt fast schon nach Bundestrainer lebenslang?

Löw: 2018 habe ich schon seit ein paar Monaten nicht mehr im Visier. Seit Jahresbeginn denke ich nur an diese EM. Erst danach richtet sich mein Blick wieder auf die WM 2018. Nach der WM in Brasilien habe ich gesagt: Okay, wir müssen einen Vierjahresplan, einen Masterplan entwerfen. Welche Spieler kommen für 2018 infrage? Das dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Aber aktuell bin ich ausschließlich mit der EM beschäftigt.

Wer inspiriert Sie als Fußball-Lehrer, mehr andere Nationaltrainer oder doch eher Vereinstrainer wie Pep Guardiola?

Löw: Beides. Es gibt Trainer, die ich seit Jahren beobachte, welchen Fußball sie spielen lassen, welche Spielkultur die jeweiligen Mannschaften haben. Da bin ich von verschiedenen Trainern inspiriert worden.

Können Sie Namen nennen?

Löw: Grundsätzlich habe ich vor einigen Jahren gerne nach Spanien geschaut, etwa zum FC Barcelona. Mittlerweile ist auch Bayern München eine Mannschaft, die Maßstäbe setzt. In England und Italien gibt es ebenfalls Elemente, die wichtig sind. Die Copa America mit Mannschaften wie Chile, Argentinien, Brasilien, Kolumbien war für mich immer wichtig. Da sieht man Veränderungen, die positiv sind für den Fußball.

Zum Beispiel?

Löw: Chile hat im vergangenen Jahr die Südamerikameisterschaft gewonnen. Chile zu beobachten, ist für mich interessant. Diese Mannschaft macht Dinge, die man nicht erwartet, die man so nicht kannte. Aus der eigenen Abwehr spielen sie gerne riskant, manchmal in Unterzahl. Man sucht sich von unterschiedlichen Trainern und unterschiedlichen Fußball-Kulturen Elemente, die gut für einen selbst sind. Und man versucht, diese einfließen zu lassen.

Haben Sie auch von anderen Trainern etwas lernen können für die Führung Ihrer Mannschaft, für Ihr Auftreten nach außen?

Löw: Ich schaue nicht nach anderen Trainern, wie sie in der Öffentlichkeit auftreten, wie sie ihre Mannschaft führen. Es geht nicht darum, jemanden zu kopieren. Ich möchte authentisch sein.

Gibt es Situationen, in denen Sie nicht authentisch sein können, in denen Sie sich womöglich sogar bewusst verstellen?

Löw: Ich stehe häufig vor der Frage, wie viel ich über meine Mannschaft erzählen kann, wenn danach gefragt wird. Manche Dinge muss man als Trainer zurückhalten. Dennoch verstelle ich mich nicht, weder in der Öffentlichkeit noch der Mannschaft gegenüber.

Warum haben Sie sich beim EM-Quartier für Évian entschieden?

Löw: Die grundsätzlichen Voraussetzungen, die für ein Basiscamp vorhanden sein müssen, stimmen in Évian. Nähe zum Platz, kleineres Hotel, ein zentraler Treffpunkt in der Mitte der Anlage, vermehrte Kommunikationsmöglichkeiten, Ruhe zur Regeneration. Dort kann man auch loslassen in der Anspannung eines Turniers. Évian erfüllt die meisten Punkte, die wir in unserer Anforderungsliste hatten.

Welche Rolle spielt das Quartier für den Turniererfolg? Bei der WM kam fast das Gefühl auf, das Campo Bahia habe in Brasilien mit als zwölfter Mann auf dem Platz gestanden.

Löw: Ja, das Campo Bahia hat schon zum Erfolg beigetragen. Die Spieler haben sich dort immer getroffen, sie waren sich selbst nahe. Dadurch ist ein Prozess in Gang getreten, der vielleicht bei der EM 2012 so nicht vorhanden war: Kommunikation untereinander, Vertrauen schaffen, Verständnis aufbauen. Diese Dinge haben im Campo Bahia vermehrt stattgefunden. Und das ist ein wichtiger Bestandteil.

Auch Paris war anfangs als möglicher Standort im Gespräch. Sind Sie im Nachhinein - gerade unter den Eindrücken des Terrors beim Länderspiel im Stade de France - froh, dass Sie sich nicht für ein Quartier in der Hauptstadt entschieden haben?

Löw: Nein. Wir hätten uns auch in Paris sicher gefühlt. Ich bin der Überzeugung, und vertraue darauf, dass in Frankreich sehr viel getan wird für unsere Sicherheit. Ich fahre ohne Angst nach Frankreich und nach Paris. Ich möchte das Thema Sicherheit auch nicht mehr ständig bei der Mannschaft thematisieren.

Als Südbadener hat man eine Nähe zum Elsass. Haben Sie dadurch eine besondere Beziehung zu Frankreich entwickelt?

Löw: Natürlich sind wir als Südbadener über die Jahre hinweg immer wieder mal ins Elsass zum Essen oder Einkaufen gefahren. In den 1990er-Jahren habe ich mir auch häufiger mal in Straßburg französische Erstligaspiele angeschaut. Es war und ist für mich immer interessant, Fußball im Ausland zu beobachten, natürlich auch in einem Fußball-Land wie Frankreich.

Wie gut sprechen Sie Französisch?

Löw: Ich hatte in der Schule ein paar Jahre Französisch. Aber ich habe vieles verlernt. Es reicht aus für einen Smalltalk, aber mein Französisch ist nicht gut genug für eine tiefgreifende Diskussion.

Aber ein Menü und einen guten Rotwein werden Sie während der EM, wenn Sie mal abends in ein Restaurant ausgehen, bestellen können?

Löw: Das kann ich, ja.

Was erwarten Sie von der Mannschaft des Gastgebers? Sie haben als Weltmeister den Druck eines Favoriten. Aber mit welchem Druck muss Ihr französischer Kollege Didier Deschamps leben?

Löw: Als Heimmannschaft haben die Franzosen einen großen Druck. Es wird vielleicht das eintreten, was wir bei der WM 2006 in Deutschland erlebt haben. Dass nach dem ersten Spiel eine Euphorie und Energie entsteht, die die Mannschaft durch das Turnier tragen kann. Frankreich hat fußballerisch eine sehr gute Mannschaft, mit guten Außen, einem starken Mittelfeld. Frankreich hat eine sehr ausgewogene Mannschaft. Ich erinnere ans WM-Viertelfinale 2014. Es war ein knappes Spiel, das wir durch ein Standardtor gewonnen haben. Frankreich war ein gleichwertiger Gegner und hat sich in den vergangenen zwei Jahren noch einmal entwickelt. Frankreich ist für mich einer der klaren Favoriten auf den Titelgewinn.

Frankreich, Deutschland und wer noch?

Löw: Die Spanier sind nach wie vor auf dem allerhöchsten Niveau, auch wenn sie 2014 bei der WM als Titelverteidiger früh ausgeschieden sind. Das hohe Niveau des spanischen Fußballs zeigt sich auch an den Erfolgen der Vereinsmannschaften. Belgien gehört für mich dazu. Auch Italien ist sicherlich nicht zu unterschätzen. Und England ist viel stärker als bei den vergangenen Turnieren.

Sie haben für die EM eine Zwei-Phasen-Theorie aufgestellt. Begründet sich diese in der Ausweitung auf 24 Mannschaften? Oder darin, dass kleinere Nationen mehr verteidigen und dann die K.o.-Spiele zwischen großen Nationen ganz anders aussehen?

Löw: Beides. Es gab die Erweiterung der Teilnehmerzahl. Dadurch sind einige Länder zum ersten Mal bei einer EM dabei. Diese Mannschaften werden gegen die großen Nationen und vermeintlichen Favoriten eines tun: sie werden verteidigen. Sie haben kaum etwas zu verlieren, sie werden bemüht sein, zunächst einmal Tore zu verhindern. Bei der EM 2012 war es noch so, dass die ersten Spiele Deutschland gegen Portugal, England gegen Frankreich und Spanien gegen Italien lauteten. Da wollten und mussten beide Mannschaften gewinnen. Das wird diesmal anders sein. Zudem haben die vergangenen zwei Jahre gezeigt, dass die Entwicklung im taktischen Bereich dahin geht, wie sie vor 20 oder 30 Jahren war: Mit Dreierkette oder sogar Fünferkette zu spielen gegen offensivstarke Mannschaften.

Was für ein Team ist die Ukraine?

Löw: Die Ukraine ist ein schwerer Auftaktgegner, den wir nicht unterschätzen werden. Die Mannschaft ist in Deutschland wenig bekannt. Die Namen der Spieler sind uns nicht geläufig. Sie spielen defensiv sehr strukturiert und sehr diszipliniert. Sie kontern schnell, haben schnelle Außenstürmer. Und sie sind körperlich robust und alles andere als zimperlich. Es ist eine gefährliche Mannschaft.

Die EM-Qualifikation verlief holprig, in der EM-Saison gab es vor der geglückten Generalprobe am vergangenen Wochenende beim 2:0 gegen Ungarn immerhin vier Niederlagen. Besorgt Sie das?

Löw: Ich habe mir immer wieder darüber Gedanken gemacht, was nach dem Gewinn des WM-Titels passiert ist. Manches hatte Gründe, manches war für mich neu. In der Qualifikation etwa die eine oder andere Niederlage mehr als früher. Das hat mich beschäftigt, aber es beunruhigt mich nicht. Ich sehe in der Vorbereitung das, was mich zufriedenstellt. Die Spieler arbeiten wahnsinnig konzentriert. Sie lenken den Fokus auf die Trainingsarbeit und die Sitzungen. Ich spüre Aufmerksamkeit. Es finden wieder vermehrt Diskussionen innerhalb der Mannschaft über einzelne Situationen und Trainingsinhalte statt. Das ist gut. Das zeigt mir, dass die Mannschaft das große Ziel wieder vor Augen hat.

Wie verlaufen die letzten Vorbereitungstage in Évian?

Löw: Der Fokus wird ganz auf die Ukraine gerichtet. Die Mannschaft wird informiert über Stärken und Schwächen des Gegners und über das, was ein Turnier mit sich bringt, über unsere Zielsetzung und das was uns in der Vorrunde erwartet. Es werden einige Sitzungen und Einzelgespräche stattfinden. An einigen Stellschrauben wird noch gedreht. Es findet der Feinschliff statt, taktisch, personell. Es wird bis zum Anpfiff nochmal eine konzentrierte Woche werden.

Packt es Ihr Kapitän nochmal? Sie hatten sich zum Start des Trainingslagers in der Schweiz noch sehr bedeckt gehalten bei Prognosen zu Bastian Schweinsteiger für die EM.

Löw: Wir haben in der Vorbereitung einige Erkenntnisse gewonnen, ich habe gesehen, dass er wahnsinnig hart gearbeitet hat. Bastian Schweinsteiger ist körperlich in einem sehr guten Zustand, er ist bislang sehr belastbar.

Zum Abschluss: Wann ist die EM für Sie ein gutes, schönes, erfolgreiches Turnier?

Löw: Die Frage kann ich vor einem Turnier nie so richtig beantworten. Wenn wir im Halbfinale nach einem großen Spiel und einer guten Leistung ausscheiden, ist es etwas anderes, als wenn wir nach einer desolaten Leistung irgendwann im Turnier ausscheiden würden. Die Antwort hängt immer von der Gesamtleistung der Mannschaft ab.