Müdigkeit, Stress, Emotionen: Späte Tore prägen EM

Berlin (dpa) - Dem Waliser Superstar Gareth Bale entglitten die Gesichtszüge, der Franzose Dimitri Payet trat vor Freude eine Eckfahne um: Extrem späte Tore lösen bei der Fußball-EM in Frankreich die unterschiedlichsten Emotionen aus.

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Schon in der ersten Turnierwoche gab es zwölf Treffer nach der 85. Minute, sieben davon fielen sogar erst in der Nachspielzeit - das ist EM-Rekord. Bei den Turnieren 2004 und 2008 - allerdings mit nur 16 Teams - wurden jeweils elfmal Spiele spät entschieden.

Als „Könige der Nachspielzeit“ wurde die EM-Gastgeber gefeiert, nachdem sie ihre Siege im Auftaktspiel gegen Rumänien (2:1) und im Duell mit Albanien (2:0) erst in der Schlussphase perfekt machten. Der Treffer von Payet gegen die Albaner in der 96. Minute ging zudem als bisher spätestes Tor in die EM-Geschichte ein.

„In den letzten Minuten lässt einfach die Konzentration nach, wenn man so leidenschaftlich kämpft und fightet“, erklärte Deutschlands Stürmer Mario Gomez das Phänomen. „Oftmals kommt in letzten Minuten noch Hektik hinzu oder eine Unachtsamkeit und dann ist es passiert.“ Bundestrainer Joachim Löw wundert das nicht: „Für einige Mannschaften ist es hier das Turnier ihres Lebens. Sie werfen alles rein, sie wehren sich mit Händen und Füßen.“

Professor Jens Kleinert vom Psychologischen Institut der Sporthochschule Köln stellte dazu fest: „Das Phänomen ist auffällig.“ Es gebe für die späten Tore drei Erklärungsansätze. „1. Es liegt ausschließlich am Körperlichen, die Puste fehlt, die Spieler werden müde. 2. Es liegt an den rationalen Fähigkeiten, die wegen der Müdigkeit eingeschränkt sind. 3. Es liegt an der emotionalen Beanspruchung“, sagte er am Freitag der Deutschen Presse-Agentur.

Gegen Ende des Spiels hätten die Akteure logischerweise weniger Zeit, einen Rückstand aufzuholen. „Eine Entscheidung, die Ende des Spiels fällt, ist immer weniger rückführbar. Wenn ich als Profi daran denke: 'Wenn jetzt ein Gegentor fällt, dann wird es kribbelig' - dann habe ich höheren emotionalen Druck, dann habe ich Stress. Denn Stress ist einfach emotionale Überbeanspruchung.“

Diese Gründe werden nach Auffassung des Experten dadurch verstärkt, dass das Leistungsgefälle zwischen den Teams geringer denn je ist. „Je größer die Ungewissheit, wie etwas ausgeht, je größer ist der emotionale Stress“, erklärte Kleinert. Von entscheidender Bedeutung sei daher, wer am Ende mehr Körner und mehr rationale Fähigkeiten habe. Die Frage laute: „Wie viel steht auf dem Spiel und wieviel kann ich da kontrollieren? Wie bedeutsam ist es, dass ich verliere? Am Ende des Spiels habe ich immer weniger Zeit, das zu kontrollieren, wenn ich jetzt in Rückstand gerate.“

Dann sei es umso wichtiger, „den Fokus nur auf die Aufgabe zu richten und nicht an Konsequenzen zu denken. Die große Fähigkeit ist es, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Das Denken an Konsequenzen ist tödlich im Hochleistungssport“, betonte Kleinert.