Gruppe C Politik und Fußball lassen sich in Nordirland nicht trennen
Düsseldorf. Die Geschichte ist allgegenwärtig in den Straßen von Belfast oder Derry. Auf Waldmalereien und Fahnen, während der vielen Jahrestage oder zur Marschsaison.
Nordirland erinnert sich unentwegt an seine historischen Schlachten, die mörderischen Anschläge, den Blutsonntag oder den Hungerstreik. All das und die mehr als 3500 Toten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben ihren festen Platz im kollektiven Gedächtnis des vom Bürgerkrieg gebeutelten Landes. Auch wenn der seit 1998 mit dem Karfreitagsabkommen offiziell als beendet gilt und sich Nordirland aus den internationalen Schlagzeilen verabschiedete.
Nun schreibt die Weltpresse wieder über Nordirland. Aber nicht über den ewigen Konflikt zwischen — vereinfacht gesagt — Protestanten, die treu zur britischen Krone stehen, und Katholiken, die den Norden der Insel als besetzt betrachten und mit dem Süden vereinen wollen. Sondern über das Fußballteam, in dem beide Gruppen zusammenspielen und das bei der EM in Frankreich Historisches vollbracht hat: Ohne große Namen, aber mit viel Leidenschaft hat es mit dem 2:0 gegen die Ukraine den ersten Sieg bei einer Endrunde seit 34 Jahren eingefahren. Am Dienstag gegen Deutschland kann es gar ins Achtelfinale einziehen.
Das lenkt aber nur vordergründig davon ab, dass die nordirische Gesellschaft auch rund 20 Jahre nach dem Karfreitagsabkommen gespalten ist. Die britische Armee mag sich zurückgezogen haben, die paramilitärischen Einheiten geschwächt oder ins kriminelle Milieu abgedriftet sein, aber noch immer gibt es Ausschreitungen oder gar Bomben und Morde. Noch immer leben die Bevölkerungsgruppen neben- statt miteinander. Bis heute zerschneiden dutzende Mauern Belfast und manifestieren die Segregation, bis heute besuchen 90 Prozent der Schüler getrennte Schulen.
Geht es nach dem nordirischen Verband, soll der Fußball helfen, das zu ändern. Doch während es im Boxen oder im Mittelklasse-Sport Rugby längst eine gesamtirische Mannschaft gibt, sind die beiden Nationen im Fußball weiter getrennt. Und damit die Bevölkerungsgruppen. Als sich der Norden im Oktober vergangenen Jahres endgültig für Frankreich qualifizierte, feierte zwar ganz Belfast. In den katholischen Vierteln interessierte sich allerdings niemand für das 3:1 über Griechenland, dort bejubelten sie das zeitgleich stattfindende 1:0 der Republik Irland über Deutschland.
Obwohl er das Gegenteil bewirken soll, bleibt der Fußball ein trennendes Element in der nordirischen Gesellschaft. Für den Großteil der Republikaner ist es nach wie vor undenkbar, die Mannschaft ihres eigentlichen Heimatlandes zu unterstützen. Ihr Team spielt in Dublin, nicht in Belfast. Im Stadion vom Protestanten-Verein Linfield FC, das in einem protestantischen Wohngebiet liegt, den Union Jack schwenken und „God Save The Queen“ singen, ist für sie undenkbar.
Was den Protestanten wiederum lange recht war. Sie wollten ohnehin unter sich bleiben. Nicht mal katholische Spieler waren gern gesehen — obwohl es immer welche gab. Unter anderem Neil Lennon, Katholik und einer der Fanlieblinge beim irisch-geprägten Glasgower Club Celtic. Lennon wurde regelmäßig beleidigt, als er sich öffentlich für ein gesamtirisches Teams aussprach, bekam er Morddrohungen von radikalen Protestanten. Als sie ihm Patronenhülsen als letzte Warnung nach Hause schickten, trat er 2002 aus der Nationalmannschaft zurück. Für die Katholiken nur ein weiterer Beweis, dass diese ein „protestantisches Team für protestantische Leute“ ist.
Der nordirische Verband musste handeln. Und er handelte. Mit Stadionverboten für das Singen religiöser Lieder und der Kampagne „Football For All“ (Fußball für alle). Seitdem gibt es Fortschritte. Auf den Rängen, wo rassistische Ausfälle zur Ausnahme werden. Im Nachwuchsbereich, wo die erste Generation nach dem Bürgerkrieg heranwächst. Und in der Nationalmannschaft, wo mehrere Katholiken spielen. Selbst Trainer Michael O'Neill ist einer und verspricht, „das Nationalteam komplett inklusiv zu machen“. Alle überzeugt das trotzdem nicht. Shane Duffy und James McClean zum Beispiel sind in Nordirland geboren und aufgewachsen, bei der EM tragen sie das irische Trikot.
Während des entscheidenden 3:1-Sieges über Griechenland Anfang Oktober sangen die nordirischen Fans deswegen „Are You Watching, James McClean?“ — siehst du, was dir hier entgeht? Doch McClean, gebürtig aus Derry, wird das eher in seiner Meinung bestärkt haben. Er spielt für Irland, weil es seiner Sozialisation entspricht: „Wenn du als Katholik die ganzen Union Jacks siehst und die Fangesänge hörst — ich habe mich dort nicht zu Hause gefühlt.“
So geht es bis heute vielen Fans. Am Tag nach den Siegen der beiden irischen Teams gegen Griechen und Deutsche gingen die Reporter vieler Zeitungen von Pub zu Pub und sprachen mit den Feiernden. Freundliche Worte für die andere Seite gab es selten. Kaum ein Unionist gratulierte den Iren zum Sieg über den Weltmeister, kaum ein Republikaner freute sich über den Sensationserfolg der Nordiren. „Sie dürfen trotzdem in unser Stadion kommen“, sagte etwa der Protestant Eddie Harrison der „Irish Times“, aber dann müssen sie für die Queen aufstehen.“ Damit konfrontiert sagte Katholik Pat Hall: „Ich würde nicht mal Nordirland gucken, wenn sie auf der anderen Straßenseite spielen würden.“