Stürmernation zweifelt an Seelers Erben

Paris (dpa) - Wie das Toreschießen gegen Nordirland funktioniert, weiß keiner so gut wie Oliver Bierhoff. Beim 3:1-Sieg im August 1997 knallte der heutige Manager des DFB-Teams den Nordiren in unnachahmlicher Mittelstürmermanier gleich drei Treffer innerhalb von sieben Minuten in den Kasten.

Foto: dpa

„Ich habe natürlich gute Erinnerungen an dieses Spiel und fand es schön und sportlich, wie die Nordiren mir später den Ball überreicht haben“, schilderte der heute 48-Jährige die Hattrick-Momente von Belfast.

Knapp zwei Jahrzehnte später wird vor dem EM-Gruppenfinale gegen die Nordiren heiß diskutiert, was mit der Stürmernation Deutschland los ist. „Ich würde gerne noch spielen können, aber habe meine Zweifel, ob Joachim Löw mich nominieren würde“, sagte der einstige Weltklasse-Angreifer Bierhoff zum Wandel im Anforderungsprofil.

„Was den heutigen Fußball angeht, weiß ich auf der einen Seite nicht, ob ich noch Platz finden würde mit meiner Spielart. Auf der anderen Seite denke ich mir immer, wenn jemand Tore macht, ist das immer gut. Aber natürlich wird jetzt mehr der spielende Stürmer gesucht“, erklärte Bierhoff vor dem dritten Vorrundenspiel.

Der nach dem WM-Triumph zurückgetretene Miroslav Klose verkörperte beides, den Strafraumtorjäger der Extraklasse und den mitspielenden Angreifer. Doch die klassische Stürmer-Spezies scheint bedroht, weil sie im Fußball des 21. Jahrhunderts weniger benötigt wird und in der hochgelobten deutschen Talentförderung die Ausbildung von neuen Kloses versäumt worden ist. Dabei war Deutschland immer eine Stürmernation. Fritz Walter, Gerd Müller, Uwe Seeler, Horst Hrubesch, Karl-Heinz Rummenigge, Rudi Völler, Jürgen Klinsmann, Oliver Bierhoff, Miroslav Klose - die Liste der Weltklasse-Torjäger im DFB-Trikot ist lang. Auch die DDR hatte in Peter Ducke oder Joachim Streich treffsichere Stürmer.

„Zu meiner Zeit war es am schwersten, würde ich mal behaupten, das muss immer gelten“, scherzte Bierhoff. Er schoss die DFB-Elf vor zwei Jahrzehnten mit dem ersten Golden Goal der Fußball-Geschichte zum EM-Triumph in England. Seine Nachfolger im Nationalmannschaftstrikot müssen heutzutage mit weitaus weniger Räumen zurecht kommen. „Es wird enorm eng und schwer für die Spieler“, beschrieb es der Teammanager.

Trotz allen Einsatzes und Eifers werden Stürmer-Auftritte letztlich nur in einer Währung bemessen. „Der, der ein Tor schießt, ist der Gute, und wenn einer kein Tor schießt, ist er es eben nicht“, sagte Thomas Müller, Deutschlands Toptorjäger der Gegenwart. Aus Spielersicht sei das natürlich schade, aber so sei es nun einmal.

Beim frühen EM-K.o. 2004 war die deutsche Angriffsabteilung zuletzt in den ersten zwei Spielen torlos geblieben. „Mir macht die Offensive aber nicht so viele Gedanken, weil wir wirklich viele Alternativen haben“, sagte Bierhoff. André Schürrle habe bei Turnieren schon häufig seine Fähigkeiten gezeigt. Mario Gomez sei mit großem Selbstvertrauen aus der Türkei angereist.

Gomez, bei Besiktas Istanbul Meister und Torschützenkönig, ist der einzige klassische Mittelstürmer in der EM-Auswahl. Im Kader werden neben dem 1,89 Meter großen Modellathleten sonst nur die körperlich kleineren Mario Götze und Leroy Sané als Stürmer geführt. Ausgerechnet Gomez wies aber daraufhin, dass es auch ohne Angreifer der alten Schule geht. „Ich habe viele Spiele gesehen, in denen es ohne echten Stürmer, sondern mit der falschen Neun hervorragend geklappt hat“, sagte er.

Joachim Löw nervt die immer wieder kehrende Diskussion, ob falsche oder echte „Neun“. Dem Bundestrainer sind vor allem Flexibilität und Kombinationsspiel wichtig. Wer dann die Tore macht, ist ihm egal.

„Gerade im Offensivbereich sind wir flexibel“, betonte auch Bierhoff. „Aber wir sind keine Mannschaft, die die Brechstange benutzt. Das kann man vielleicht die letzten Minuten gebrauchen.“ Den Erfolg der Methode „lang-und-weit“ dokumentierte Bierhoff vor zwei Jahrzehnten immer wieder: Das könnte nun dem bereits gegen Polen eingewechselten Mario Gomez für die kommenden Turniertage Hoffnung machen.