Torjubel - Emotion pur oder pure Inszenierung?

München (dpa) - Hatten Sie nach einem Erfolgserlebnis auch schon mal das Bedürfnis, Ihren Kollegen vor Freude anzuspringen? So absurd es klingen mag - auf dem Fußballplatz zählt diese Reaktion zu den typischen Szenen des Torjubels.

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Wie Trikotausziehen, Backpfeifenverteilen und Über-den-Boden-Rutschen ist das gegenseitige Bespringen - gesteigert bis zur Bildung eines Menschenhaufens - eine gängige Folge eines Treffers. Jenseits des Rasens wäre ein derartiges Verhalten in Erfolgssituationen aber wohl allenfalls verstörend.

„Als Büromensch ist man irritiert, weil wir uns das abtrainiert haben“, sagt der Kultursoziologe Thomas Schmidt-Lux von der Universität Leipzig. „Unsere Choreographie ist eher das Handgeben.“

Im Stadion hingegen ist alles anders: „In dieser Arena, in diesen 90 Minuten darf ich mich anders verhalten“, erklärt Professor Uwe Wilkesmann von der Technischen Universität Dortmund, der das Portal „Sozialwissenschaftliche Fußballforschung“ betreibt. Beim Fußball seien andere Rollenverhalten möglich als im Alltag. „Es ist sozial erlaubt und akzeptiert, völlig anderes Verhalten zu zeigen als sonst: Männer fallen sich um den Hals, knutschen sich ab oder weinen.“

Der Jubel erfüllt dabei mehrere Funktionen: Der Torschütze kann sich feiern und feiern lassen, die Spieler können sich geschlossen als Mannschaft präsentieren, wie Theaterwissenschaftler André Studt von der Universität Erlangen-Nürnberg erläutert. Zudem können Fans miteinbezogen werden - und sich durch Choreographien zusammentun.

Ein weiterer Aspekt: „Jubel hat auch Wirkung auf den Gegner, provoziert ihn, so dass er gereizt ist“, sagt Professor Darko Jekauc, Leiter der Abteilung für Sportpsychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. „Man feiert, um den Gegner aus der Deckung kommen zu lassen.“ Freilich kann dieser Schuss auch mal nach hinten losgehen, wenn die andere Mannschaft zu sehr angestachelt wird. „Das gehört zum Psychospiel“, sagt Jekauc. „Das muss man beherrschen.“

Die Wissenschaftler betonen auch den Wandel des Torjubels im Laufe der Zeit. Gerade in jüngerer Vergangenheit spiele Inszenierung eine immer größere Rolle: Die BVB-Spieler Pierre-Emerick Aubameyang und Marco Reus jubeln mit Masken von Comic-Helden, der Rekordtorschütze der deutschen Nationalelf, Miroslav Klose, schlug Salti, Superstar Cristiano Ronaldo kommt bei dieser EM bislang zwar kaum zum Jubeln. In besseren Zeiten erstarrt er regelmäßig in heroischer Pose vor der Fankurve.

„Das Publikum erwartet Unterhaltung“, sagt Schmidt-Lux. Da könne eine bestimmte Aktion - nur oft genug wiederholt - zum Markenzeichen werden. In Zeiten der Massenmedien zieht das weite Kreise. „Gerade charismatische Spieler leisten sich Choreographien, während Nonames und Ausputzer eher konventionell jubeln“, hat Studt analysiert. Konventioniell heißt: Arme hochreißen, Faust ballen, stehenbleiben.

Noch in den 1970er Jahren hätten Spieler anders gejubelt, sagt Schmidt-Lux: statt Showeinlagen ein Schulterklopfen. „Damals hat sich auch keiner spontan das Trikot ausgezogen.“ Insgesamt habe sich der Jubel früher stärker auf die Mitspieler konzentriert, heute sei er individueller. Ähnlich äußert sich Wilkesmann: Richtige Choreographien hätten sich erst Ende der 1990er entwickelt - auch aufseiten der Fans. „In den 50er, 60er Jahren war es üblich, dass Zuschauer zum Schützen auf den Rasen gelaufen sind.“

Die Folgen der veränderten Jubelformen sind vielfältig: Schon Kinder auf dem Bolzplatz imitieren ihre Idole, wie Studt beobachtet hat. Zur Ikonographie gehöre auch, dass in Computerspielen Fußballer „ihren“ Jubel zeigen. „Fußball wird mehr als Produkt, als Show wahrgenommen“, sagt der Theaterwissenschaftler. Und das kann ähnlich absurd wirken wie der eine oder andere Jubelakt: „Auch die Werbung greift das auf“, sagt Studt. „Dann wird auf einmal Wurst frenetisch bejubelt.“