Europameisterschaft Von der Presse bis zum Torwart: Alle kritisieren Belgiens Trainer Wilmots

Bei den Belgiern steht Marc Wilmots wie kaum ein anderer Nationaltrainer in der Schusslinie — und nun steuert auch die irische Legende Tony Cascarino die These bei, dass die Roten Teufel zwar die Spieler haben, die EM zu gewinnen, aber nicht den Trainer

Der belgische Nationaltrainer Marc Wilmots hat viele Kritiker.

Foto: Sergey Dolzhenko

Bordeaux Es ist nun wahrlich nicht zu behaupten, dass die vielen Rasenflächen auf dem „Le Haillan“, wie die Einheimischen das weitläufige Trainingsgelände von Girondins Bordeaux nennen, schlechte Wachstumsbedingungen vorfinden. Weit und breit ist die nähere Umgebung von monströsen Objekten befreit, die Luftzirkulation oder Lichteinfall beeinträchtigen. Dennoch tuckerte die Tage über die Spielfelder ein Traktor, auf dem ein Arbeiter im weißen Schutzanzug mitsamt Atemmaske saß. Angespannt ein Behälter, von dem großflächig eine offenbar nicht ungefährliche Chemikalie verspritzt wurde. Wirklich vertrauenswürdig wirkte diese Form der Platzpflege nicht, aber es taugte als Sinnbild.

Denn war nicht wenige Meter weiter im Medienzentrum der belgischen Nationalmannschaft das Arbeitsklima bereits vergiftet? Wenn Marc Wilmots mit streng zurückgekämmtem Haupthaar, entschlossenem Blick und schwarzem Kapuzenpullover den Zeltbau mit den weinroten Plastikstühlen und dem feuerroten Kunstfaserteppich betrat, dann schlug ihm unverhohlen Skepsis, ja Abneigung entgegen. Pressekonferenzen als Tribunal. Und viele Urteile waren gefällt, bevor der Weltranglistenzweite überhaupt in Bordeaux sein zweites Gruppenspiel gegen Irland (Samstag 15 Uhr) bestritten hat.

„Het Laastste Nieuws“, die am meisten gelesene Tageszeitung des Landes, die auf Niederländisch erscheint, breitete genüsslich die Einschätzung der irischen Stürmerlegende Tony Cascarino aus, der Salz in offene Wunden streut: „Die Belgier haben die Spieler, das Turnier zu gewinnen, aber nicht den Trainer.“ Rums. „La Dernière Heure“, das französischsprachige Boulevardblatt, urteilte: Wilmots hätte seine Taktik im Italien-Spiel in der Halbzeit anpassen können, aber er hat nichts geändert: „C'est une imposture." Das ist Betrug. Rums. Die französische Fachzeitung „L’Éqiupe“ titelte: „Wilmots, allein gegen (fast) alle.“ Rums.

Und über allem thronte noch das Statement von Torwart Thibaut Courtois, die Squadra Azzurra habe die belgische Elf „taktisch deklassiert.“ Ungeachtet der Tatsache, dass Trainer und Torwart am Freitagnachmittag gemeinsam vor die Presse traten: die Grundsatzdebatte tobt. Fast 20 Autominuten vom Bordeaux-Zentrum entfernt hat der belgische Verband eigentlich einiges getan, damit die Lieblinge der Nation auch liebevoll behandelt werden: Trainingsplatz und Medienareal der „Red Devils“, Roten Teufel, grenzen direkt aneinander. Zwar lassen die blickdichten grünen Planen keine Einblicke zu, aber würden sich Eden Hazard und Kevin De Bruyne, die im ersten Spiel so viel schuldig blieben, sich lautstark beschimpfen, könnten alle mithören.

Und der belgische Nationaltrainer steht — im Gegensatz zum Kollegen Joachim Löw — täglich Rede und Antwort. Doch zumindest der flämische Teil der Presse ist mittendrin, sich gedanklich von Wilmots zu verabschieden. Das Schalker „Kampfschwein“ entschied vor dem zweiten Spiel, nun mal selbst in den Kampfmodus zu schalten, der dem einen oder anderen Hochbegabten aus seinem illustren Ensemble gegen die Iren sicherlich gut tun würde. Der 47-Jährige führte die Gegenrede in durchaus angefressener, mitunter sogar aggressiver Tonart.

„Nach dem einen Spiel soll meine Arbeit plötzlich nichts mehr wert sein? Das ist mir ein wenig zu einfach!“ Er habe nicht vier Jahre lang gearbeitet, „um alles über den Haufen zu werden.“ Und überhaupt: „Wir müssen uns bewusst werden, dass wir vielleicht eine Schlacht, aber noch lange nicht den Krieg verloren haben.“ Doch selbst martialische Vergleiche können den Eindruck nicht übertünchen: Trotz Vertrags bis 2018 könnte diese Euro das Ende der Wilmots-Ära bedeuten. Und vielleicht hat der ehemalige Bundesligaprofi ja nicht zufällig nun ausgeplaudert, dass sich seine Ausstiegsklausel seit dem 30. Mai auf eine Million Euro reduziert habe. Die Nachricht fördert das Zutrauen in seine Arbeit nicht. Im Gegenteil.

Wie die komplizierte Geschichte für ein nicht geeintes Land ausgeht, ist noch nicht abzusehen. Der Turniermodus verzeiht einerseits anfängliche Fehler, andererseits sind die Belgier wohl weniger Mitfavorit denn mehr Wundertüte geworden. Unberechenbar wie das Wetter in der Hauptstadt der Region Aquitaine. Ohne große Vorankündigung ging zuletzt immer wieder ein Starkregen nieder, und wenn die Tropfen herunterprasselten, dann drohte mitunter das „Jupiler Media Center“ fortzuschwimmen. Ist aber bisher nicht passiert. Immer wenn es allzu heftig wurde, lugte kurz danach doch die Sonne wieder hervor. Vielleicht wird ja im „Le Haillan“ doch alles gut. Und der Traktor hat auch gar kein Gift verspritzt.