Von Gurus und Grantlern: EM-Zeit ist (auch) Expertenzeit
Nizza (dpa) - So schlimm wie zu Rudi Völlers Zeiten wird es nicht mehr werden. Der legendäre Wutausbruch des damaligen DFB-Teamchefs über Gurus und Ex-Gurus, über Schwachsinn, Käse und Weizenbier hat sich für immer ins Gedächtnis der Fußball-Republik Deutschland eingebrannt.
So genervt Völler vor 13 Jahren im TV-Studio reagierte, so gelassen kontert heute Bundestrainer Joachim Löw all die Einlassungen und Ausführungen der (selbst ernannten) Experten.
Ob Ballack, Buchwald oder Basler - jeder Sender und nahezu alle Publikationsorgane im Weltmeister-Land leisten sich während der EM Ex-Fußballer oder Ex-Trainer als Fachleute. Als nach den ersten beiden durchwachsenen Auftritten der DFB-Elf gegen die Ukraine (2:0) und Polen (0:0) die uralte Führungsspieler-Diskussion ins Feld geführt wurde, reagierte Löw sogar amüsiert: Dies zaubere ihm „irgendwie ein Lächeln ins Gesicht“, sagte der Bundestrainer. „Das hatten wir auch 2014 - dann sind wir Weltmeister geworden.“
So dürften auch vor allem die Verdienste der jüngeren Vergangenheit und der am Ende doch souveräne Achtelfinal-Einzug die Hauptgründe dafür sein, dass zwar ein bisschen gemäkelt wird, aber kaum so richtig gemeckert. Mario Basler nutzte nach dem Polen-Spiel das Medium Twitter, um Sätze loszuwerden wie: „Hätte ich die Ecken früher so geschossen wie der Özil, dann hätte ich mit 14 aufgehört.“ Der frühere Capitano Michael Ballack sprach im US-Sender ESPN seinen Nachfolgern „ein bisschen Persönlichkeit und Charakter“ ab.
Mehmet Scholl kritisierte in der ARD „Körpersprache und Teilnahmslosigkeit“ von Mesut Özil, der Regisseur wehrte sich via „Bild“ gegen „Leute, die sich einmischen und wichtig machen wollen“. Abgesehen von den vorhersehbaren Verbal-Scharmützeln in einer überhitzten und aufgeregten Medienwelt mit dem typischen Hang zu Polarisierungen und Zuspitzungen zeigt sich im Expertentum aber auch eine neue Qualität. Oliver Kahn wird im französischen Fachblatt „L'Équipe“ zitiert oder äußert sich pointiert zur Leistung von Cristiano Ronaldo oder der enttäuschenden Österreicher.
Holger Stanislawski probiert es auch mal mit Humor und sogar Ironie, Thomas Helmer versucht dem populistischen Genöle etwas entgegenzusetzen und verteidigt Mario Götze mit den Worten: „Es ist mir zu billig, jetzt wie alle anderen auf ihm herumzuhacken.“
Unterhaltsam und zum Teil entlarvend sind die öffentlichen Bekundungen natürlich auch. Denn nach dem dritten deutschen Spiel und dem 1:0 gegen Nordirland waren plötzlich viele Experten und Fragesteller euphorischer und unkritischer als Spieler und Betreuerstab. Das Phänomen der Schwarzmalerei müssen jedoch nicht nur die Deutschen ertragen. Auch in England oder Frankreich äußern sich Prominente wie Gary Lineker, Alan Shearer, Bixente Lizarazu oder Paul Le Guen in Gazetten und Fernsehshows zur Lage der Fußball-Nation.
Am liebsten wäre es Löw & Co. natürlich, wenn alle sich an den Rat des Formel-1-Piloten Sebastian Vettel halten würden. „Wir sind am besten beraten, alle Experten und die ganze Nation, unseren Mund zu halten und die Jungs einfach machen zu lassen“, sagte der Ferrari-Fahrer. Aber es wäre eben auch ein bisschen langweiliger.