Belgien Wilmots: Angezählt von allen Seiten

Mit dem vorzeitigen EM-Abschied neigt sich bei der belgischen Nationalmannschaft auch die Ära Marc Wilmots dem Ende entgegen — beide Seiten müssen nur noch ausbaldowern, wie sie auseinandergehen.

Für Marc Wilmots könnten die Tage als belgischer Nationaltrainer gezählt sein.

Foto: Laurent Dubrule

Lille/Bordeaux. So hatte sich Marc Wilmots den Abschied eigentlich bei dieser EM nicht vorgestellt. Es hatte etwas vom übereilten Aufbruch, dem Teamhotel der belgischen Nationalmannschaft in Le Pian-Médoc in der grünen Umgebung der Weinmetropole Bordeaux in aller Herrgottsfrühe nur ein flüchtiges „Au revoir“ zurufen zu können, weil bereits der Charter am Flughafen Bordeaux-Mérignac wartete. Pünktlich um neun Uhr landete dann am Samstagmorgen der desillusionierte Tross der Roten Teufel am Airport Brüssel-Zaventem. Radja Nainggolan und Eden Hazard stiegen ins Taxi, auf Toby Alderweireld wartete der Bruder, auf Thibaut Courtois der Vater. Und auf Wilmots die Familie. Immerhin.

Eigentlich war ein viel längerer Aufenthalt in seiner Lieblingsstadt angedacht. Der 47-Jährige hatte Bordeaux in sein Herz geschlossen, nachdem er eine Saison 2000/2001 — mitten in seiner Schalker Zeit — für Girondins spielte. Und sich so sehr in Region, Klima und Menschen verliebte, dass er sich vor 15 Jahren in der Nähe in Saint-Aubin-de-Médoc ein Haus kaufte. Er hat dort genau wie seine Frau und Kinder viele Freunde lieb gewonnen. Gut möglich, dass das Rückzugsgebiet bald noch andere Zwecke erfüllt. Denn im Grunde müssen der Nationaltrainer und der belgische Verband KBVB nur noch klären, wann und wie das bis 2018 laufende Arbeitsverhältnis nach dem enttäuschenden Viertelfinal-Aus vorzeitig beendet wird.

Die Niederlage gegen Wales (1:3) sei für Fans, Team und Verband nur schwer zu ertragen, hieß es in einem am Samstagabend verschickten Kommunikee. „Gründlich muss die sportliche und organisatorische Funktionsfähigkeit der Nationalmannschaft bilanziert werden, dann werden Entscheidungen bekannt gegeben, das wird aber nicht in den kommenden Tagen sein“, hieß es. Es geht aber wohl nur noch um die Modalitäten der Trennung. Und letztlich um Geld.

„Ich werde meine Entscheidung nicht sofort treffen. Ich will alles analysieren. Ich brauche Zeit, um darüber nachzudenken“, hatte Wilmots auf der Pressekonferenz im Stade Pierre-Mauroy von Lille bereits wissen lassen, nachdem er zuvor jeden Akteur einzeln per Handschlag im Kabinengang verabschiedet hatte. Ob seine Mannen nun Geheim-, Mit- oder Topfavorit waren: Sie wären zwingend zu mehr befähigt gewesen. Der Trainer verstrickte sich bei seiner Analyse wieder in Widersprüche. Einerseits klagte Wilmots über den Ausfall wichtiger Abwehrspieler („Ich bin kein Magier, so viel Erfahrung kannst du nicht ersetzen“), andererseits übernahm er selbst die Schuld fürs Versagen („Ich bin verantwortlich“).

Einige Akteure haben dem Coach längst die Gefolgschaft gekündigt. „Ich muss meine Worte vorsichtig wählen, denn ich will nicht alles zerstören. Aber so eine Chance kommt nie wieder“, bemerkte Torwart Courtois. Der Fast-Zwei-Meter-Hüne hatte nach Spielschluss das Gespräch mit seinem Vater Thierry gesucht, der auf der Tribüne einen noch besseren Blick gehabt hatte. Es darf also als gewollte Aktion gewertet werden, dass einer der Wortführer sogleich Wilmots auf die Hörner nahm. „Wir hatten die gleiche taktische Aufstellung wie gegen Italien - und wieder hat es nicht funktioniert.“ Es sei kein Zufall, dass es gegen die Waliser wie in der EM-Qualifikation (0:0, 0:1) nicht reichte; "dass wir immer die gleichen Probleme bekommen.“ Dass Chelsea-Kollege und Kapitän Hazard nur wenige weiter in der Mixed Zone treuen Glaubens versicherte, 23 Spieler seien mit dem Trainer happy, war denn mal als Irrtum entlarvt. Oder als Zeichen für einen tiefen Riss im ohnehin landesweit brüchigen Gefüge.

Zuvorderst aber die mit der Italien-Pleite zum EM-Auftakt teils absurd aufgeladene Trainer-Debatte störte die Frankreich-Mission. Bei den Pressekonferenzen in einem Zeltbau gleich neben dem Trainingsplatz auf dem „Le Haillan“, dem Gelände von Girondins Bordeaux, hockte Wilmots zumeist mit verschränkten Armen auf dem Podium wie auf einer Anklagebank. Vor allem die flämische Presse wie die „Hets Laatste Nieuws“ zweifelte seine Befähigung als Fußballlehrer an und fragte nun auch wieder: „Adieu, Wilmots?“ Wie sehr ihn dieser Umgang ärgerte, war zwei Tage vor dem Viertelfinale deutlich geworden, als der impulsive Arbeitertyp eine Eloge auf die Schalker Zeiten hielt. „Ich habe miterlebt, wie Rudi Assauer einen Verein groß gemacht hat. Nur wenn 50 Leute in eine Richtung arbeiten, dann geht es voran. Aber ich kann hier selber kein Tor mehr schießen.“ Immer mehr verdichteten sich die vergangenen Tage die Anzeichen, dass das „Kampfschwein“ nach vier Jahren beim belgischen Nationalteam nicht mehr kämpfen mag. Bereitwillig hatte er bereits über eine Ausstiegsklausel in seinem Vertragswerk geplaudert. Gerüchte über einen Wechsel nach China zerstreute er allerdings mit dem Hinweis, dass „mein Kopf noch ganz gut funktioniert“. Vielleicht legt er einfach bald die Beine hoch. In seinem Haus in Saint-Aubin-de-Médoc.