„Seleção ist das Volk“: Fußballer solidarisieren sich
Fortaleza (dpa) - „Die Seleção ist das Volk.“ Mit diesem bemerkenswerten Satz von Cheftrainer Luiz Felipe Scolari hat sich Brasiliens Fußball-Nationalmannschaft mit den landesweiten Protesten solidarisiert.
Ausgerechnet im Land des fünffachen Weltmeisters, Confed-Cup- und WM-Gastgebers scheuen die Profis keine Antworten auf politische Fragen. Und Felipão denkt nicht daran, ihnen einen Maulkorb zu verpassen: „Wir verbieten nichts!“ Die Spieler sollten schließlich Persönlichkeiten sein und hätten „alle Freiheit“, sich zu den Demonstrationen zu äußern.
Mehr als 200 000 Menschen sind im fünftgrößten Land der Welt auf die Straße gegangen, haben ein Ende von Korruption und Misswirtschaft gefordert und die zu hohen Kosten für die Fußball-WM 2014 kritisiert. Dabei kam es auch zu Krawallen, aber die meisten Proteste blieben friedlich. „Viele denken, dass Fußballer nur an Fußball denken. Aber wir wissen, was gerade passiert. Wir wissen, dass sie Recht haben mit ihren Protesten und dass in unserem Land viele Dinge verbessert werden können. Ich bin eindeutig für die Proteste“, sagte Hulk ungewöhnlich deutlich. Der Stürmer von Zenit St. Petersburg musste bei zwei Pressekonferenzen in Fortaleza mindestens so viele Fragen zur politischen Lage wie zum nächsten Gegner Mexiko beantworten. Er tat dies - ebenso wie sein Teamkollege David Luiz vom FC Chelsea - ohne mit der Wimper zu zucken.
Hulk verwies darauf, dass er zwar schon lange im Ausland lebe, aber nicht vergessen habe, aus welch armen Verhältnissen er stamme. Er habe, als er die Fernsehbilder sah, Lust verspürt, sich den Demonstranten anzuschließen, so der 26-Jährige. Trotz hartnäckiger Fragen von Journalisten schritten weder die Offiziellen der FIFA noch des Brasilianischen Fußball-Verbandes CBF ein. Dabei heißt es bei Pressekonferenzen, wenn heikle Themen angesprochen werden, mittlerweile oft: „Nur Fragen zum Sport!“
In einem Exklusiv-Interview des Fernsehsenders TV Globo zeigte FIFA-Präsident Joseph Blatter zumindest Verständnis für die Demonstranten, die zudem mehr Geld für Bildung und Gesundheit verlangten. „Ich kann verstehen, dass die Menschen nicht glücklich sind. Aber ich denke, sie sollten den Fußball nicht dazu nutzen, um ihre Forderungen zu verkünden“, sagte der 77 Jahre alte Schweizer, betonte aber auch: „Brasilien hat diese WM verlangt. Wir haben Brasilien diese Weltmeisterschaft nicht aufgezwungen. Sie wussten, um die WM zu bekommen, müssen Stadien gebaut werden.“ Neben den Stadien dienten auch Straßen, Hotels und Flughäfen als Vermächtnis. „Dies bleibt als Erbe für die Zukunft und nicht nur die Weltmeisterschaft.“
In politische Debatten wollte sich Blatter allerdings nicht verwickeln lassen. Diese Demonstrationen seien keine Angelegenheit für seinen Weltverband, erklärte der FIFA-Boss. Als es in Brasilia vor dem 3:0-Sieg der „Seleção“ gegen Japan erste Proteste gegeben hatte, hatte sich Scolari mangels Wissen („Ich habe keine Idee, was passiert ist“) noch zurückgehalten. Jetzt aber äußerte sich der 64-Jährige deutlich: „In einer Demokratie ist es normal, dass man diese Demonstrationen akzeptiert und dass sie von der Regierung wahrgenommen werden. Wir wünschen uns, dass sie weiter friedlich sind.“ Rigoros wies er Vermutungen von sich, seine Mannschaft könne wie zu Zeiten der Militär-Diktatur politisiert und in eine Ecke mit den Staatsoberen gestellt werden.
„Die Leute haben das Recht, es auszudrücken, wenn sie nicht glücklich sind“, sagte Abwehrspieler David Luiz. „Die Brasilianer sind Patrioten und lieben ihr Land. Ich hoffe, dass ein Konsens gefunden wird und es in Zukunft ein besseres Brasilien gibt.“ Dante hat bei der „Mini-WM“ ebenfalls klar Stellung bezogen und soziale Missstände angesprochen. „In Brasilien ist es nicht einfach, unser Land ist groß, die ganze Welt schaut auf uns. Die Leute sind zum Teil sehr reich, andere haben gar nichts“, sagte der brasilianische Abwehrchef des Champions-League-Siegers FC Bayern München.
Ob es eine schlechte Idee war, die WM 2014 nach Brasilen und die Olympischen Spiele 2016 nach Rio de Janeiro zu vergeben? Scolari schüttelte den Kopf: „Ich habe vor den Spielen in London viele Proteste gesehen.“