Fußball Kritik an Nachwuchsförderung: "Ich finde die Entwicklung mehr als grenzwertig“
Martin Schweizer, der Sportliche Leiter der Freiburger Fußballschule, über die Kritik an der Nachwuchsförderung nach dem WM-Ausscheiden und warum für immer jüngere Kicker immer höhere Ablösesummen fällig werden.
Herr Schweizer, nach dem Vorrundenaus bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland wurde in der Analyse zuletzt auch die Jugendarbeit in den Nachwuchsleistungszentren kritisiert, die früher als Aushängeschild des deutschen Fußballs galt. Hat Sie das überrascht? Gibt es Handlungsbedarf bei den Nachwuchsleistungszentren?
Martin Schweizer: Nein, überrascht hat mich das nicht und ob es Handlungsbedarf gibt, lässt sich aus meiner Warte nicht sagen. Es gibt schließlich kein einheitliches Ausbildungskonzept. Jeder hat seine eigene Konzeption, der DFB, wir hier in Freiburg, der FSV Mainz 05 und so weiter. Da ich nicht den täglichen Ablauf bei anderen Vereinen kenne, kann und will ich auch nur für uns sprechen. Und da muss ich sagen: Es gibt immer Handlungsbedarf. Wir wollen frisch bleiben und sind stets auf der Suche nach Neuerungen.
Bei einigen Kritikern hätte man glauben können, dass es kaum noch deutsche Fußballtalente gibt.
Schweizer: Ja, aber das muss man objektiv betrachten. Ich glaube wir haben viele Talente. Was uns abhanden gekommen ist, sind mannigfache Bewegungserfahrungen, die Kinder zu Straßenfußballern haben werden lassen. Da spielen Handys oder Playstation sicher eine Rolle. Zudem gibt es auch einige „harte“ Fakten, die dafür sprechen, dass Potenziale nicht genutzt werden. So werden etwa im Talentauswahlprozess nicht unbedingt die geeignetsten Spieler gefördert, sondern die, die glücklicherweise früh im Jahr geboren werden, da sie körperlich weiter sind und eher schnellen Erfolg versprechen. Auf dieses Phänomen, genannt Relativ Age Effect, haben wir bisher keine adäquaten Antworten gefunden.
Aber die, die trotzdem noch Fußball spielen, werden laut Mehmet Scholl viel zu früh in Spielsysteme gepresst, die eine individuelle Entwicklung verhindern. Wieviele Spielsysteme muss denn ein Jugendlicher vom SC Freiburg beherrschen?
Schweizer: Das ist aus meiner Sicht völlig unwichtig. Zunächst einmal wird da vieles miteinander vermischt, was nichts miteinander zu tun hat. Systeme und Grundordnung etwa. Die Grundordnung, also ob wir ein 4-4-2 oder ein 4-4-3 spielen, ist zweitrangig. Wir arbeiten mit Spielprinzipien, die den Spielern für jede Grundordnung einen Wiederkennungswert geben.
Bleibt da genug Platz für das Individuum?
Schweizer: Ich glaube, ja. Unsere Spielprinzipien sind hierbei die Leitplanken, innerhalb derer sich der Spieler frei entfalten kann und trotzdem eine Struktur vorfindet. Für uns bedeutet Ausbildung aber auch, dass ab einem gewissen Alter und Niveau ein komplettes Fußballspiel in seine Einzelteile zerlegt und analysiert wird. Im Trainingsprozess gehen wir auf jeden einzelnen Spieler ein. Es gibt extra Zeitfenster, in denen der Spieler an seinen Stärken und Schwächen mit dem Mannschaftstrainer arbeitet. Oder Einheiten, bei denen im Detail zum Beispiel die Stürmer Torabschlüsse und die Defensivspieler Abwehrkopfbälle trainieren.
Nicht nur die Art des Trainings wurde kritisiert, auch der Umgang mit den Talenten. Der ehemalige Freiburger Manager Andreas Rettig, aktuell Geschäftsleiter beim FC St. Pauli, meint, dass den Jungs viel zu viel abgenommen werde.
Schweizer: An der Diskussion kann ich mich nicht beteiligen. Wären wir Weltmeister geworden, würden alle sagen, die deutsche Ausbildung ist die beste der Welt. Jetzt sind wir stattdessen früh ausgeschieden und alles soll deshalb schlecht sein? Das ist mir zu viel Schwarz und Weiß. Was Herr Rettig, denke ich, meinte, ist die Persönlichkeitsbildung. Das ist auch richtig, die Jungs müssen lernen, was im Leben wichtig ist. Sie müssen selber Hürden aus dem Weg räumen. Wenn bei uns eine fürsorgliche Mutter in der U12 ihrem Sohn die Tasche in die Kabine trägt, gehen wir freundlich auf sie zu und suchen das Gespräch. Dann erklären wir ihr, dass die Jungs das selber lösen müssen. Wenn sie außerhalb des Platzes Probleme zu lösen lernen, können sie das auch auf dem Platz besser. Wir versuchen, Werte wie Verantwortung, Verlässlichkeit, Vertrauen oder Teamgeist vorzuleben und weiterzugeben und so für die Spieler erlebbar zu machen.
Und erst im Profibereich gibt es dann all die Annehmlichkeiten im Breisgau?
Schweizer: Meines Wissens nach putzen die drüben immer noch selber ihre Schuhe. Das ist in Freiburg normal. Überhaupt, es gibt da nicht den plötzlichen Wandel, bloß weil einer zu den Profis darf. Klar haben die einen Zeugwart, der nach den Dingen schaut, aber das schließt ja nicht aus, dass die Spieler sich auch verantwortlich für das Material fühlen und sich entsprechend benehmen, Bälle zusammentragen und die Kabine ordentlich verlassen.
Wurden Sie von Nachwuchsspielern auf die Affäre um Mesut Özil angesprochen?
Schweizer: Das war bei uns nie ein Thema. Vielleicht haben die Jungs miteinander darüber gesprochen, aber ich wurde nie dazu angesprochen.
Angeblich musste in Russland morgens um 3 Uhr das WLAN ausgeschaltet werden, weil einige Nationalspieler sonst noch weiter vor ihren Laptops gesessen hätten. Wann ist denn Internet-Sperrstunde im Freiburger Fußball-Internat?
Schweizer: Das gibt es bei uns ab 23 Uhr auch. Die Jungs brauchen ausreichend Schlaf, um am nächsten morgen in der Schule aufmerksam sein zu können und entsprechend regeneriert für das nächste Training zu sein. Parallel versuchen wir die Jungs dahin zu erziehen, dass sie selber verstehen, wie eine optimale Spielvor- und -nachbereitung aussieht. Aber natürlich machen Jugendliche auch mal Fehler und schießen übers Ziel hinaus. Das muss man dann regulieren, das ist dann die pädagogische Arbeit, sie auf den Weg mitzunehmen, damit sie es verstehen.
Versuchen wir mal mit einigen Fußballmythen aufzuräumen. Ab welchem Alter werden Kinder verpflichtet.
Schweizer: Puh, das ist ein riesiges Thema. Unsere jüngste Mannschaft im Nachwuchsleistungszentrum (NLZ) ist die U12, andere Vereine fangen bereits mit Achtjährigen an. Formal kann man jeden Spieler verpflichten. Wenn ein Spieler von einem Nachwuchsleistungszentrum zu einem anderen wechseln möchte, also beispielsweise von uns zum Hamburger SV, wird es komplizierter. Da werden dann die sogenannten Ausbildungsentschädigungen fällig.
Von was für Beträgen reden wir da.
Schweizer: Je nach Alter und Dauer der Zugehörigkeit zu einem Nachwuchsleistungszentrum. Da können Beträge im vierstelligen, aber auch im hohen fünfstelligen Bereich zusammenkommen.
Und was verdienen Jugendspieler?
Schweizer: Unter 16 Jahren gar nichts.
Und danach?
Schweizer: Tatsächlich darf man einen Jugendlichen erst mit 15 Jahren unter Vertrag nehmen. Die bekommen dann bei uns einen sogenannten Taschengeldvertrag, weil sie das tatsächlich erhalten: Taschengeld. Da gibt es auch keine Ausnahmen, dass einer mehr bekommt.
Woanders bekommt ein talentierter Spieler angeblich deutlich mehr.
Schweizer: Dann muss er leider dahin gehen. Wir sind vermutlich eines der Nachwuchsleistungszentren, die am wenigsten bezahlen. Aber es muss hier doch auch um Ausbildung gehen, da darf nicht das Geld im Vordergrund stehen.
Als die ersten Nachwuchsleistungszentren entstanden, gab es ein Gentlemen’s Agreement unter den Vereinen, dass man sich keine Spieler gegenseitig abwerben wollte.
Schweizer: Das stimmt. Dann kam 2006 der Wechsel von Toni Kroos von Hansa Rostock zum FC Bayern. Da floss richtig Geld. Damit hatte sich das Agreement dann auch erledigt.
Und wie hat sich der Umgang untereinander seither entwickelt?
Schweizer: Man kann sagen, dass der finanzielle Wahnsinn, der sich im Profibereich seit einigen Jahren abspielt, sich tendenziell in den Jugendbereich trägt. Ist ja auch logisch. Anstelle eines Durchschnittkickers für fünf Millionen Euro holen die Clubs inzwischen lieber fünf Talente. Wenn eines davon den Durchbruch schafft, verkauft man den und hat noch was gutgemacht.
Entsprechend werden Spieler im Jugendbereich noch häufiger von anderen Clubs abgeworben als früher?
Schweizer: Ja, einige Nachwuchsleistungszentren sind da sehr aggressiv unterwegs und bereit, sich für richtig viel Geld, Qualität zu kaufen. Und diese Tendenz, Spieler zu ködern, beginnt immer früher.
Haben Sie ein Beispiel?
Schweizer: Wir haben vor zwei Jahren einen Spieler verloren. Bei uns wäre er von der U13 in die U14 gekommen, wurde von uns schulisch betreut, mit dem Bus zum Training geholt und wieder heimgebracht und wenn er schlechte Noten hatte, organisierten wir Nachhilfestunden. Der Spieler hatte eine Rundumbetreuung. Und dann bekam ich einen Tag vor Ende der Wechselfrist die Mitteilung, dass der Junge zu einem anderen NLZ wechselt. Da frage ich mich schon: Wo sind wir angekommen? Ich muss doch abwägen, was wichtiger ist. Die Jungs sollen im heimatlichen Umfeld einigermaßen normal aufwachsen, was schwierig genug ist bei dem Aufwand, den sie betreiben müssen.
Warum hat er gewechselt. Was wurde dem Spieler geboten?
Schweizer: Das weiß ich nicht. Die Frage ist: Was kann ein anderes NLZ besseres bieten als wir ihm bieten konnten? Und wenn ich die beantworte, bleibt nicht viel übrig...
Das hat was von Aktienzockerei.
Schweizer: Ich finde die Entwicklung mehr als grenzwertig. Zumal, das muss man ja mal ganz ehrlich sagen, ich bei aller Sichterei in den Altersklassen bis zu 14 Jahren keine ernsthafte Prognose abgeben kann, ob es einer in die Bundesliga schaffen wird oder nicht. Ich würde nie die Hand ins Feuer legen, dass einer Profi wird. Dafür ist der Weg mit Pubertät, Verletzungen und unterschiedlichen sportlichen Entwicklungen viel zu weit und zu steinig. Deshalb sagen wir einem Zwölfjährigen ja auch, dass er besser noch bei einem unserer Kooperationsvereine bleiben soll, statt seine Heimat so früh zu verlassen, um einen Traum zu jagen, der sich für die meisten nicht erfüllt.
Dennoch werden immer jüngere Spieler abgeworben?
Schweizer: Es wird immer wilder. Vor zwei Jahren war es ein 14-jähriger, inzwischen gibt es ähnliche Fälle bei zwölf- und 13-Jährigen. Aktuell hatten wir einen Spieler, den wir bewusst noch bei einem unserer sieben Kooperationsvereine ließen, damit er sich dort in seinem heimatlichen Umfeld entwickeln konnte. Wir investieren vor Ort in einen Kooperationstrainer, standen ständig in Kontakt mit dem Elternhaus. Jetzt wechselt er mit zwölf Jahren zu einem großen Club. Ich war zwei Mal bei der Familie zu Hause. Der Junge hat Freunde, eine Schwester, einen Hund, Mama und Papa. Alles wohl behütet. Das ist doch irgendwie verrückt.
Man kann nichts dagegen tun?
Schweizer: Die Ausbildungsentschädigungssummen sollen verdoppelt werden. Davon verspreche ich mir aber wenig Effekt, denn den großen Clubs ist es doch egal, ob sie die doppelte Summe auf den Tisch legen. Für einen kleineren Verein wie uns wird es dagegen deutlich schwerer, Spieler nach Freiburg zu holen.
Angeblich soll der 1. FC Heidenheim zuletzt um Freiburger Spieler geworben haben.
Schweizer: Wir haben ein ganz gutes Verhältnis zu Heidenheim. Die haben eine rasante Entwicklung genommen, spielten vor einigen Jahren noch in der Oberliga, inzwischen haben sie ein neues Stadion, ein Nachwuchsleistungszentrum, eine Scoutingabteilung — da wird gute Arbeit geleistet. Aggressiver als andere sind sie aber nicht.
Im Ausland haben einige Clubs seit Jahren sogar noch jüngere Spieler aus Südamerika verpflichtet.
Schweizer: Ja, aber das ist nicht unser Thema in Freiburg. Wir werden speziell in den unteren Jahrgangsklassen immer regional bleiben. Im Internationalen Fußball bin ich daher auch kein Experte. Ich kann Ihnen aber sagen, dass wir einen Spieler aus den USA beispielsweise erst mit 18 Jahren holen dürften.
Das System hat aber Lücken wie man immer wieder hört.
Schweizer: Klar, wie jedes andere auch. Die Regeln wurden angeblich dadurch umgangen, dass ganze Familien verpflanzt wurden.
Der Druck auf die Kinder wird so auch nicht geringer.
Schweizer: Natürlich, der ist riesig und je nach Elternhaus sogar gigantisch. Daher ist es unsere Pflicht, den Druck wegzunehmen. Die Kinder sollen Freude und Spaß haben.
Es wird also noch gelacht im Jugendtraining?
Schweizer: Ja (schmunzelt). Es ist auch die Aufgabe eines Trainers, dafür zu sorgen, dass Freude und Spaß ihren Platz haben im Training.
Aber aller Spaß ist vorbei, wenn ein Spieler aussortiert wird, weil ein anderer besser ist. Das sind dann dramatische Tage für die Kinder, oder?
Schweizer: Ja, das trifft einige dann hart, deshalb machen wir uns solche Entscheidungen auch nicht einfach und fangen eben auch erst mit Zwölfjährigen an. Es geht auch nicht nur darum, Profi zu werden. Es geht besonders darum, das eigene Potential auszuschöpfen — charakterlich, schulisch wie fußballerisch. Dann ist es auch keine Niederlage, wenn man kein Profi wird. Dann geht man einen anderen Weg, der genauso gut ist.