Mit Wagner beim Confed Cup Löws Mega-Experiment: Sechs Neulinge in Russland
Frankfurt/Main (dpa) - Joachim Löw nippte noch mal kurz an seinem Espresso, bevor er mit dem radikalsten Turnierkader seiner Amtszeit verblüffte.
Der Bundestrainer verzichtet beim ungeliebten Confed-Cup nicht nur ausnahmslos auf seine gestandenen Fußball-Weltmeister. Er setzte am Mittwoch in Frankfurt sogar noch Torjäger Mario Gomez und BVB-Star Marco Reus auf die extrem lange Streichliste.
Löw wird mit einem zusammengewürfelten, aber zugleich reizvollen „Perspektivkader“ mit lediglich drei WM-Titelgewinnern von 2014 nach Russland reisen. Zu den gleich sechs Neulingen im deutschen Nationalteam für das Acht-Nationen-Turnier vom 17. Juni bis 2. Juli zählen auch die spät berufenenen Senioren Sandro Wagner (29 Jahre) und Lars Stindl (28).
Seinem 23-Mann-Aufgebot, das einer Wundertüte gleicht, wollte Löw ganz bewusst keinen Rucksack mit weltmeisterlichen Erwartungen auflasten. „Wir haben kein Ziel gesetzt, dass wir Erster, Zweiter, Dritter werden müssen“, erklärte der Bundestrainer. Er geht sportlich ins Risiko und wird sich beim WM-Probelauf auch selbst überraschen lassen müssen: „Hinterher wird man sehen, was gut war.“
Fest steht: Mit dem jungen Aufgebot ohne alle Topstars von Jérôme Boateng bis Toni Kroos wird Löw im WM-Gastgeberland und beim großen Sportsfreund Wladimir Putin keine Vorfreude auf den Weltmeister entfachen. Ohne die urlaubenden Meisterkicker sollen Gesellen wie Julian Draxler, Shkodran Mustafi und der Kölner Jonas Hector nach Löws Vorstellungen die Leitwölfe des Talentschuppens mit insgesamt nur 156 Länderspieleinsätzen sein.
Aber das, was FIFA, Russen-Präsident Putin oder andere Außenstehende denken, ist dem im DFB allmächtigen Löw schnuppe. „Der Confed-Cup findet statt“, sagte er vielsagend zur Bedeutung des Turniers, das für ihn eine „Zwischenstation“ auf dem Weg zur wahren „Mission“ der Nationalelf darstelle. „Weltmeister zu werden, ist etwas für die Ewigkeit“, sagte Löw - und sandte diese Botschaft an die FIFA: „Wenn der Confed-Cup 2021 nicht stattfindet, wäre ich nicht unglücklich.“
Drei Turniere in drei Jahren seien „grenzwertig“. Darum erhalten Dauerleister wie Thomas Müller oder Mesut Özil in diesem Sommer frei. Auch bei dem so oft verletzten Dortmunder Reus mochte Löw kein Risiko eingehen. „Marcos ganz großes Ziel ist die WM 2018, um da auch mal international zu zeigen, was er kann.“ Reus soll nach dem Pokalfinale gegen Eintracht Frankfurt mal richtig „runterfahren“ können.
In den Gruppenspielen gegen Asien-Cup-Gewinner Australien (19. Juni), Südamerika-Meister Chile (22. Juni) und Afrika-Champion Kamerun (25. Juni) sollen sich Jungstars wie der Schalker Leon Goretzka oder der Leipziger Angreifer Timo Werner für eine WM-Rolle empfehlen können.
Es gehe darum, die großen Talente „zu neuen Mesüt Özils zu machen“, sagte Löw. Dafür könne der Confed-Cup nützlich sein. „Die WM ist kein Schnupperkurs für junge Spieler. Da müssen wir gegen Messis und Ronaldos bestehen“, betonte der Bundestrainer: „Wenn zwei oder drei Junge in der kommenden Saison Druck auf die Etablierten machen, bin ich glücklich.“ Dann sei die Planung aufgegangen.
Neben Wagner, der als klassischer Mittelstürmer Gomez ersetzt, stehen erstmals auch der spielstarke Gladbacher Kapitän Stindl, Herthas Linksverteidiger Marvin Plattenhardt, Hoffenheims Kerem Demirbay, Eins-gegen-eins-Spezialist Amin Younes von Ajax Amsterdam und der Leipziger Balleroberer Diego Demme im Nationalteam. Ohne Länderspiel ist außerdem noch Kevin Trapp, der dritte Torwart neben den schon erprobten Marc-André ter Stegen und Bernd Leno.
Pikante Randnotitz: Demirbay hatte noch zwei Tage zuvor in einem vom türkischen Fußball-Verband veröffentlichen Schreiben an den Weltverband FIFA seinen Wunsch geäußert, für die Türkei zu spielen. Jetzt sagte der Hoffenheimer zur Nominierung in die deutsche A-Mannschaft: „Für mich ist klar, dass ich der Einladung folge und für mich ein Traum in Erfüllung geht.“
Der spät berufene Wagner bringe „eine andere Note ins Spiel“, sagte Löw über den U21-Europameister von 2009. Kein Comeback im DFB-Team feiert der Bremer Angreifer Max Kruse, obwohl Löw versicherte: „Bei ihm weiß ich, was er kann. Die Tür ist für Max nicht zu.“
Eine besondere Herausforderung für Löw und Junioren-Coach Stefan Kuntz war die Aufteilung der Talente für den Confed Cup und die parallel stattfindende U21-EM (16. bis 30. Juni) in Polen. Diese sei „nicht richtungsweisend“ für die WM 2018, versicherte Löw etwa mit dem Blick auf den Schalker Max Meyer und den Bremer Serge Gnabry, die das U21-Team anführen sollen. Kuntz strebt zwar den Titelgewinn an, er akzeptiert aber seine Hauptrolle als Lieferant für Löw: „Dass die A-Nationalmannschaft das Endziel sein muss, ist auch klar.“
Löw geht sein Mega-Experiment ohne ein Trainingslager an. Am 5. Juni erfolgt der Start in Kopenhagen. Dort findet schon einen Tag später ein Freundschaftsspiel gegen Dänemark statt. Vier Tage später folgt als zweiter Testlauf das WM-Qualifikationsspiel gegen Fußballzwerg San Marino in Nürnberg. „Diese Spiele wollen wir nutzen, um gewisse Dinge einzuschleifen“, erklärte Löw.
Dem DFB-Chefcoach ist klar, dass der Weltmeister auch ohne Kapitän Manuel Neuer und Co. in Russland besonders im Fokus stehen wird. „Wir haben die Aufgabe, eine gute Visitenkarte abzugeben.“ Das wird keine einfache Sache für Wagner, Stindl und die wenigen etablierteren Kräfte wie Joshua Kimmich, den einzigen Bayern-Profi in Löws diesjähriger Russland-Reisegruppe.
Deutschlands Kader für den Confederations Cup: