Löws WM-Mission „nimmt Gestalt an“

London (dpa) - Die Sieger von Wembley konnten ihre „besondere Freude“ über den 1:0-Prestigeerfolg im englischen Fußball-Heiligtum nur einen Moment gemeinsam genießen.

Gleich nach dem Duschen hasteten die neun Nationalspieler aus München und Dortmund aus dem Stadion, die gecharterten Privatflieger beförderten die Bundesliga-Rivalen noch in der Nacht nach Hause.

Am Morgen danach erreichte den DFB und Bundestrainer Joachim Löw die nächste unangenehme Nachricht: Mats Hummels hat sich im Klassiker gegen England an der Ferse schwer verletzt und fällt zwei Monate aus - ein neues Sorgenkind auf dem Weg zur WM nach Brasilien. „Wenn ich die schwere Verletzung von Sami Khedira hinzu zähle, kann ich mich nicht erinnern, wann wir bei der Nationalmannschaft zuletzt innerhalb so kurzer Zeit solche Verletzungen hatten“, sagte Löw.

So stehen beim Topspiel BVB gegen FC Bayern am Samstag kaum noch Dortmunder Nationalspieler auf dem Platz. Denn auch Marcel Schmelzer (Muskelfaserriss) kehrte verletzt in die Heimat zurück - mindestens drei Wochen Pause.

Löw konnte sich in den Katakomben der Wembley-Arena nur zwischen Tür und Angel bei den meisten seiner WM-Kandidaten für den letzten Jahreseinsatz im Dienste des Vaterlandes bedanken und seinen Jungs noch unter dem Eindruck des Kreuzbandrisses bei Sami Khedira und den jüngsten Verletzungen vor allem Gesundheit bis zum nächsten Spiel Anfang März in Stuttgart gegen Chile wünschen.

Hummels verlängert die Verletztenliste, auf der schon Bastian Schweinsteiger (Knöcheloperation), Lukas Podolski (Muskelbündelriss), Miroslav Klose (Schulterverletzung), Ilkay Gündogan (Rückenverletzung) und Mario Gomez (gerade zurück im Training) stehen. Alle müssen im WM-Jahr mit regelmäßigen Einsätzen erst wieder in den Spielrhythmus und in Form kommen. „Es tut mir sehr leid“, sagte BVB-Kollege Roman Weidenfeller zum Unfall von Hummels.

Auch Löw beklagte das Verletzungspech. „Wenn sich Spieler in Länderspielen verletzen, ist das immer bedauerlich - für den Spieler, die Nationalmannschaft, die Vereine. Marcel und Mats waren zuletzt gut drauf, dass sie nun ausfallen, ist für sie selbst und Borussia Dortmund natürlich unglücklich“, sagte Löw in einer Pressemitteilung des Deutschen Fußball-Bundes am Mittwoch.

Während die gesunden Spieler ihren Fokus nun wieder auf die vielfältigen Aufgaben in Bundesliga, Champions League, DFB-Pokal und auch noch Club-WM im Falle des FC Bayern richten, kann Löw in den WM-Modus wechseln. Mit einem guten Gefühl reist der 53 Jahre alte Chefcoach in zwei Wochen zur „nervenaufreibenden“ Gruppen-Auslosung am 6. Dezember in den brasilianischen Küstenort Costa do Sauipe. „Man möchte die Gegner wissen und wo man spielt. In Gedanken und Gesprächen sind wir schon alle Gruppen durchgegangen“, schilderte Löw. Er habe „keine Wunschgegner“, aber nach der Loszeremonie nehme die WM-Mission sportlich und logistisch endlich „wahre Gestalt an“.

Aus London nahm der Chef der deutschen Titel-Mission 2014 vor allem die Erkenntnis mit, dass das System Nationalelf auch ohne etliche Leistungsträger wie Kapitän Philipp Lahm oder Spielmacher Mesut Özil funktionieren kann. „Wir haben eine große Auswahl an Spielern“, sagte Teammanager Oliver Bierhoff.

Die Bender-Zwillinge füllten mit ihrer Kampfkraft die Räume im Mittelfeld. Angeführt von Ersatz-Kapitän und Torschütze Per Mertesacker stimmte insbesondere die Abwehrleistung. Der Dortmunder Weidenfeller musste bei seinem Debüt im Tor sein Können gar nicht zeigen. Glück benötigte er nur beim Pfostenschuss von Andros Townsend: „In Wembley gegen England gewinnen - besser kann es gar nicht kommen“, schwärmte Weidenfeller nach dem Spiel, das 12,17 Millionen Zuschauer in der ARD verfolgten.

Der älteste Torwart-Debütant in der deutschen Länderspiel-Historie war einer der Gewinner der neuntägigen Dienstreise von München über Mailand bis London. „Er macht einen sehr reifen, sehr selbstbewussten Eindruck“, lobte Löw den nun ernsthaften Kandidaten für einen der drei WM-Torhüterplätze. Mertesacker hat sich 2013 den Status als unantastbarer Abwehrchef zurückerkämpft, mit dem sehr stabilen Münchner Jérome Boateng bildet er ein stabiles Zentrum.

Der turniererfahrene Mertesacker sieht gute Voraussetzungen für das Brasilien-Abenteuer. „Wenn sich jeder Einzelne am Riemen reißt und in gute Form bringt für den Sommer, haben wir viele gute Spieler zur Verfügung. Und wenn der Teamgeist noch weiter wächst bis zum Turnier, haben wir wirklich gute Chancen“, sagte der Abwehrchef.

Löw weiß um das Potenzial seiner Mannschaft, aber er wurde bei aller Freude über den „verdienten Sieg“ nicht euphorisch. Er kennt auch seine Baustellen. Lahm bleibt der einzige Außenverteidiger mit Weltklasseformat. Wie beim 1:1 in Italien fehlt dem Offensivspiel ohne einen klassischen Mittelstürmer die Zuspitzung. Gegen England ärgerte sich Löw an der Seitenlinie mehrfach maßlos, „dass wir nicht das zweite Tor erzielt haben“. Gegen Italien (Hummels) und England (Mertesacker) trafen Abwehrspieler im Anschluss an Eckbälle.

Löw kündigte für die Turniervorbereitung im kommenden Mai „eine harte Detail-Arbeit“ in allen Mannschaftsteilen an. Und die Ausfälle der verletzten Topspieler habe man zwar „ganz gut kompensieren“ können. Aber „klar“ ist für ihn: „Wir werden diese Spieler 2014 unbedingt brauchen.“

Nur dann kann - 18 Jahre nach dem EM-Triumph von Wembley - die titellose Zeit enden. „Wir haben eine große Auswahl an Spielern. Wir glauben an sie. Und wir haben schon Selbstvertrauen getankt“, lautete die Jahresbilanz von Manager Bierhoff: „Aber wir haben auch eine große Verpflichtung.“ Die Nation erwartet den großen Wurf.