Müller und Sparwasser deutsche WM-Helden

Berlin (dpa) - Sieben Spiele bis zum Triumph. Gut zehneinhalb Stunden kämpfen die deutschen Fußballer um den WM-Titel - nur 2,2 Sekunden braucht Heribert Faßbender in seiner legendären Radioreportage, um die entscheidende Szene zu schildern.

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„Da kommt der Ball auf Müller, der dreht sich um die eigene Achse, schießt und - Tooooor! Tor durch Gerd Müller!“ 20 Jahre nach dem Wunder von Bern müllert es in München mächtig: Am 7. Juli 1974, 16.43 Uhr, schießt der Bomber der Nation das Siegtor zum 2:1 (2:1) im Finale gegen die Niederlande. Wer sonst? Eine ganze Nation atmet nach dem Schlusspfiff im Olympiastadion auf, der Jubel war grenzenlos. Nach der verregneten Heim-WM geht am Finaltag die Sonne auf.

Und die ganze Welt schaut zu: Erstmals wird ein WM-Turnier live und komplett im Farb-TV übertragen - alle 38 Spiele in den Stadien von Berlin, Hamburg, Frankfurt, Hannover, Dortmund, Gelsenkirchen, Düsseldorf, Stuttgart und München. Rund 900 Millionen Fernsehzuschauer in 112 Ländern fiebern mit. 99 Mannschaften hatten sich um eine Teilnahme beworben, 16 Teams schafften es zur ersten Fußball-WM in Deutschland. Größte Überraschung: England scheitert schon in der Qualifikation an Polen, das mit Top-Torjäger Grzegorz Lato (7 Treffer) den enttäuschenden Titelverteidiger Brasilien im kleinen Finale sensationell mit 1:0 besiegt.

Nicht nur das Endspiel der 10. Fußball-Weltmeisterschaft ist spannend - vor allem der Weg hat es für die Mannschaft von Trainer Helmut Schön in sich. Die in der Sportschule Malente kasernierten und streng bewachten DFB-Stars überkommt bald der Lagerkoller, zehn Tage vor dem ersten Gruppenspiel eskaliert die Situation: Bis in die Nacht streiten sich Kapitän Franz Beckenbauer und Co. mit den DFB-Oberen um die WM-Siegprämie. Mit einem Machtwort beendet der Kaiser das Feilschen: 60 000 Mark spendierte der Verband schließlich pro Mann.

Nach dem Auftaktsieg gegen Chile (1:0) gibt es Pfiffe, das 3:0 gegen Außenseiter Australien ist schon das Ticket für die Zwischenrunde. Dann kommt der 22. Juni: „Warum wir heute gewinnen“, erklärt die „Bild“-Zeitung. Die fette Schlagzeile muss auch Jürgen Sparwasser beim Morgenkaffee im Sporthotel Quickborn gelesen haben: Mit seinem Treffer zum sensationellen 1:0-Sieg der DDR im Hamburger Volkspark macht sich der Stürmer vom 1. FC Magdeburg unsterblich. „Wenn man auf meinen Grabstein eines Tages nur 'Hamburg 74' schreibt, weiß jeder, wer darunter liegt“, sagt er später.

Begräbnisstimmung herrscht nach der Niederlage gegen die DDR-Staatsamateure beim DFB-Team - aber nicht lange. In der Nacht fliegen in Malente bei einer stürmischen Aussprache die Fetzen: Als Trainer Schön schon im Bett liegt, nimmt sich Beckenbauer seine Kollegen zur Brust. Beim 2:0 gegen Jugoslawien steht dann eine völlig neue deutsche Mannschaft auf dem Rasen, die gegen Schweden ihre beste Turnierleistung abruft (4:2). Und weil kleines dickes Müller auch bei der unvergesslichen Frankfurter Wasserschlacht gegen Polen (1:0) trifft, stehen Beckenbauer & Co. im Finale.

Müller, 1970 in Mexiko mit zehn Buden noch WM-Torschützenkönig, verabschiedet sich mit dem goldenen Tor - dem vierten der Heim-WM - aufs DFB-Altenteil: Der 68. Treffer in seinem 62. Länderspiel sollte der letzte des stämmigen Münchners im Adler-Trikot sein.

Für die von Georg Buschner trainierten DDR-Kicker erweist sich das 1:0 im Volkspark als Pyrrhussieg: Denn in der starken Zweitrundengruppe A gibt es für die Ostdeutschen gegen den dreifachen Weltmeister Brasilien (0:1), Favorit Niederlande (0:2) und Argentinien (1:1) nach zuvor zwei Siegen nichts mehr zu gewinnen.

97 Tore gibt es in den 38 Spielen - ein Schnitt von 2,55 Treffern pro Partie markiert bis dato einen Minusrekord. Für ein dickes Plus sorgen dagegen die Fans: Offiziell werden beim Wasserfest - jedes zweite Spiel war verregnet - zuvor unerreichte 1 769 062 Karten verkauft. Trübe Stimmung herrscht beim zweimaligen Weltmeister Italien: Die Azzurri scheiden sensationell schon in der Vorrunde aus.