Niersbach: "Ein Fußballstadion ist keine rechtsfreie Spielwiese"
DFB-Präsident Wolfgang Niersbach spricht im WZ-Interview über politische Debatten im Fußball, die geplante Aufstockung der EM und den Umgang mit "Problemfans".
Frankfurt. In den Regalen stehen alte Jahrbücher, gebundene Zeitschriften und Vereinschroniken — auch die von Fortuna Düsseldorf. Der Autor des Werkes kommt gerade zur Tür der Bibliothek in der Zentrale des Deutschen Fußball-Bundes herein. Aus dem Journalisten und Autor Wolfgang Niersbach ist der Präsident des größten Sportfachverbandes der Welt geworden. — bei Kaffee und Mineralwasser treffen wir uns mit einem langjährigen Berufskollegen zu einem Interview. WN — so war sein Kürzel als Reporter — redet wie früher: Offen, spontan, geradeheraus. Er lacht, gestikuliert und flachst. „Habt ihr noch was?“, fragt er nach zwei Stunden. „Na, war ja auch genug. Da könnt ihr ja eine Serie draus machen …“
Ihre Spontaneität wollten Sie sich unbedingt erhalten im Amt — ist das bisher gelungen, ohne dass Sie gestolpert sind?
Wolfgang Niersbach: Ich denke schon, und diese Eigenschaft will ich mir auch erhalten. Das ist meine Art, mein Stil, und so kennen mich die Leute. Ich gebe zu, dass ich gerne lache und mich ebenso gerne mit offenen, freundlichen Menschen umgebe. Wenn die Delegierten des DFB-Bundestages einen anderen gewollt hätten, hätten sie einen anderen wählen können.
Welche Schlagzeile würden Sie zum Ende Ihrer Präsidentschaft gerne lesen?
Niersbach: Er hat viel bewegt, sich selbst aber nicht verändert.
Sie wirken bei öffentlichen Auftritten locker und entspannt, gleichgültig ob die Kanzlerin oder der Bundespräsident neben Ihnen sitzt. Antrainiert oder angeboren?
Niersbach: Ich halte mich für sehr normal, für sehr geerdet, sagt man heute ja. Das ist vielleicht sogar eine Stärke von mir. Schon als junger Journalist habe ich gelernt: Je unverkrampfter man mit Prominenten umgeht, desto unverkrampfter verhalten sie sich. Ein Beispiel: Vor ein paar Tagen hat mir die Bundeskanzlerin eine SMS „Viel Glück der U17 im Finale“ geschickt, nachdem ich ihr in Berlin erzählt habe, dass ich nach Ljubljana fliegen würde, falls unsere U17 dort das EM-Finale erreichen würde. Und auch der Umgang mit dem Bundespräsidenten beim Pokal-Endspiel war extrem angenehm und wohltuend normal.
Manchmal reden Sie wie ein Fan. Neulich zum Beispiel haben Sie gesagt, dass Sie den Freiburger Trainer Christian Streich gut finden und den gern mal kennenlernen würden.
Niersbach: Und wissen Sie, was ein paar Tage später in der Post war? Ein persönlicher Brief von ihm, in dem er sich bedankt hat und mich nach Freiburg eingeladen hat. Ist doch toll, oder?
Spüren Sie denn nicht, dass Sie stärker unter Beobachtung stehen als früher?
Niersbach: Nein, das empfinde ich bisher noch nicht. Es fällt mir leicht, auf die Menschen zuzugehen und mit ihnen zu reden. Das einzige, woran ich mich erst noch gewöhnen muss, sind die Autogrammkarten.
Aber es gibt die ganz schweren Themen. Die politische Debatte um die Frage der Menschenrechtsverletzungen im EM-Gastgeberland Ukraine — war das nicht gleich zu Beginn der Amtszeit eine ziemliche Herausforderung?
Niersbach: Das ist eine Herausforderung, ganz klar. Und zwar eine, die ich nicht allein bestehen kann, sondern nur im Team. Allerdings ist es kein Thema, das man delegieren kann, da muss der Präsident Position beziehen. Meine Haltung war und ist eindeutig: Von einem Boykott halte ich gar nichts, da hat mich die Debatte 1980 geprägt, als die westliche Welt unter Führung der USA die Olympischen Spiele in Moskau boykottiert hat. Das hat politisch nichts gebracht, eher im Gegenteil. Und Hunderte von Athleten sind um die Chance ihres Lebens gebracht worden. Ich bin sehr froh, dass sich meine Meinung deckt mit der der Bundesregierung. Wenn einige Politiker aus den hinteren Reihen, die womöglich noch nie im Stadion waren, einen Boykott fordern, dann ist für mich der Schulterschluss mit der Bundesregierung entscheidend. Aber glauben Sie mir: Ich hätte diese grundsätzliche Haltung auch dann so klar eingenommen, wenn es an führender Stelle eine andere Auffassung gegeben hätte.
Und jetzt ermuntern Sie sogar die Nationalspieler, sich politisch zu äußern und sagen, große Sportereignisse könnten eben auch dazu dienen, den internationalen Blick auf eventuelle Missstände im Gastgeberland zu richten.
Niersbach: Das stammt ja nicht von mir, diese Einstellung ist ja schon vor den Olympischen Spielen in China verbreitet worden. Außer Olympia hat wohl nur der Fußball diese Kraft, ein Land derart in den Fokus der Weltöffentlichkeit zu rücken. Und darin liegt natürlich auch eine Chance. Wobei wir bitte nicht vergessen dürfen, dass zum Zeitpunkt der EM-Vergabe die Verhältnisse in der Ukraine ganz andere waren — damals war die Hoffnung da, dass ein sportliches Großereignis dem Land einen weiteren Schub in Richtung Demokratie und Europa geben könnte.
Der Eindruck ist: Die beiden Organisationskomitees haben wenig miteinander zu tun, tauschen sich schlecht aus. Wahrscheinlich finden im Sommer zwei Europameisterschaften statt — eine in Polen, die andere in der Ukraine. Ist das ein spezielles Problem oder ein grundsätzliches des Co-Gastgeber-Modells?
Niersbach: Solche Co-Konstruktionen, bringen natürlich Probleme mit sich. Selbst bei Ländern wie den Niederlanden und Belgien musste man 2000 jedes Thema zwei Mal lösen — Visa, Polizei, Zoll, Sicherheit. Aber man muss den politischen Willen der UEFA sehen, die auch kleinere Länder als Ausrichter haben will. Für 2016 hatten wir ja sogar eine skandinavische Bewerbung, da wären es sogar vier Länder gewesen.
Aber es wird ja noch schwerer für ein einzelnes Land, die EM auszurichten, wenn ab 2016 statt wie bisher 16 Länder dann 24 teilnehmen.
Niersbach: Die großen Fußball-Nationen werden das natürlich hinkriegen, aber auch Portugal hat es zum Beispiel 2004 geschafft. Und Russland kommt als potenzieller Ausrichter dazu. Unabhängig davon bin ich kein großer Freund von 24 Teilnehmern. Die Qualifikation wird an Spannung erheblich verlieren. Und im Turnier selbst muss man nach einem Modus spielen, bei dem man eine Logarithmentafel braucht, um feststellen zu können, wer denn nun die besten Gruppendritten sind. Auf der anderen Seite muss man sagen: Das sind demokratische Entscheidungen, die gefallen sind, weil der Druck von Ländern wie Norwegen, Schottland, Finnland oder Belgien auf die UEFA so groß war, die unbedingt wieder teilnehmen wollen an einer Endrunde. Auch dafür kann man durchaus Verständnis haben.
Alle reden vom ersten Titel für die A-Nationalmannschaft seit 1996. Dabei gibt es rund um die Mannschaft einige Baustellen…
Niersbach: …für die wir ja extra ein paar Leute eingestellt haben! Und was hätten Sie denn zu schreiben, wenn es diese Baustellen nicht geben würde? Nein, im Ernst: Ich habe ein extrem großes Vertrauen in das Trainerteam und in die Mannschaft. Der Bundestrainer und sein Team haben das immer hinbekommen, und wenn ich sehe, was für Klassejungs in der Mannschaft sind, dann geht mir das Herz auf. Wie viel fußballerische Substanz da drin steckt — das ist die helle Freude. Ob es dann am Ende wirklich zum Titel reicht? Wir haben doch jetzt beim Champions League-Finale in München gesehen, was alles passieren kann, auch wenn man fast alles richtig macht…
Haben Sie deshalb das vorauseilende Bekenntnis für Bundestrainer Joachim Löw abgegeben?
Niersbach: Nein, das habe ich abgegeben, weil Journalisten danach gefragt haben. Sonst hätte ich das nicht gesagt, weil es so selbstverständlich ist. Aber das kommt noch öfter vor der EM, ich weiß doch noch, wie das Spiel geht. Einer fragt: Herr Löw, was ist wenn… Ein anderer sagt: Der Verband hat gesagt, dass… Dann kommt eine Antwort, die fängt an mit „Im Fußball ist alles möglich“ — und schon machen wilde Spekulationen die Runde.
Seit klar ist, dass die deutsche Mannschaft Quartier in Polen bezieht, wurde darüber spekuliert, ob es einen Besuch in Auschwitz — dem ehemaligen Vernichtungslager der Nazis, das als Gedenkstätte an die sechs Millionen jüdischer Opfer erinnert — geben wird. Sie haben angekündigt, dass es einen solchen Besuch geben wird. Wie wird das ablaufen?
Niersbach: Wir werden den Zeitpunkt so lange wie möglich für uns behalten. Denn ich halte es nicht für angemessen, einen solchen Besuch zu einem PR-Ereignis werden zu lassen. Es soll alles sehr würdevoll ablaufen, das verlangt eine Menge Feingefühl. Das ist ein Besuch, auf den man sich intensiv vorbereiten muss — das geht richtig unter die Haut.
Der DFB hat vor einem Jahr den Vertrag mit den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten verlängert und nannte es einen guten Abschluss. Der gerade jetzt verlängerte Vertrag der DFL wird als „sensationell“ bezeichnet. Haben Sie Ihre Premium-Produkt Nationalmannschaft nicht doch zu günstig verkauft?
Niersbach: Nein, denn wir haben auch einen sehr guten Vertrag mit den öffentlich-rechtlichen Partnern ARD und ZDF, und zwar nicht nur für die Länderspiele, sondern auch darüber hinaus. Nennen Sie mir ein anderes Land, in dem es für die Rechte an der höchsten Frauen-Liga 2,7 Millionen Euro gibt. Daneben haben wir den höchstdotierten Drittliga-Vertrag der Welt. Und das, was wir beim DFB-Pokal durch den Ausstieg des ZDF verlieren, kompensieren wir durch neue Marketing-Einnahmen. So wird der DFB-Pokal 2012/13 erstmals mit einem eigenen Ärmelsponsor ausgespielt. Der DFB-Pokal ist topvermarktet und wird — anders als in vielen Ländern, wo die vergleichbaren Wettbewerbe eher eine Nebenrolle spielen — optimal im Fernsehen präsentiert. Der Pokalwettbewerb bietet gerade kleineren Vereinen die Chance, außergewöhnliche Einnahmen zu erzielen. Im DFB-Pokal hat sich schon mancher in Existenznot geratene Traditionsverein saniert.
Die Einnahmen, die der DFB über die Nationalmannschaft erzielt, ermöglichen den Unterhalt einer aufwändigen Nachwuchsarbeit, der Trainerausbildung und der Unterstützung der Basis durch Zuwendungen an die Landesverbände. Nun wird sogar über den Bau eines zentralen Trainingsleistungszentrums nachgedacht. Wozu bräuchte man das?
Niersbach: Es müsste in der Tat etwas sein, das wir noch nicht haben, beispielsweise eine zentrale Stelle für die Leistungsdiagnostik aller unserer Auswahlmannschaften auf der Basis der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse mit modernster technischer Ausstattung. Wir haben bisher noch keine belastbaren Zahlen, sondern nur ein paar Angebote für potenzielle Standorte. Aber wir haben die Entscheidung bewusst ins zweite Halbjahr verschoben, um auch innerhalb des Verbandes ruhig über das Thema sprechen zu können. Das würde keine Einrichtung gegen unsere Verbandssportschulen werden, sondern eine, die deren Angebote ergänzen könnte. Als ständiges Vorbereitungsquartier für die deutsche Nationalmannschaft ist es nicht ausschließlich angedacht. Wie gesagt: Es ist ein reizvolles Thema, das Oliver Bierhoff im Präsidium vorgetragen hat. Wenn wir dort zu der Überzeugung gelangen, dass es das ist, was dem DFB noch fehlt, und es auch finanzierbar ist, dann werden wir es machen. Aber nicht als Prestigeobjekt.
Dem deutschen Fußball geht es gut wie lange nicht mehr — doch die Schlagzeilen werden beherrscht von Ausschreitungen, der Pyrotechnik-Debatte und Platzstürmen. In dieser Ausprägung gewinnen all die an Oberwasser, die Repression befürworten. Stimmen Sie da zu?
Niersbach: Ich könnte jetzt aufzählen, was der DFB, die DFL und die Vereine an Prävention im Fanbereich tun — das mache ich nicht, sondern sage nur, dass es kein Land in Europa gibt, das hier mehr leistet. Aber: Es gibt einen Kern von Leuten, die durch keine Präventivmaßnahme zu erreichen sind und davon auch nicht erreicht werden wollen. Die sind auf Krawall und Gewalt aus, eine kleine Minderheit, die die große Masse der friedlichen Fans in Misskredit bringt.
Was wollen Sie konkret tun mit Blick auf die neue Saison?
Niersbach: Wir werden neue Wege gehen und als DFB und Ligaverband ein klares Bündnis mit den Vereinen bilden, um Geschlossenheit zu zeigen und gemeinsam zu handeln. Ganz wie jeder andere Veranstalter auch: Störenfrieden die Tür weisen. Wenn einer in Hamburg im Schauspielhaus im zweiten Akt aufsteht und Münzen auf die Bühne wirft, kann der gehen. Das heißt für uns: Alle Vereine müssen darauf achten, dass die Regeln eingehalten werden. Es ist kein Kavaliersdelikt, wenn Toilettenpapier, Bierdeckel, Bananen oder Münzen aufs Spielfeld geworfen werden. Daran muss man erinnern, aber da müssen alle Vereine mitziehen. Das fängt damit an, dass die Einhaltung der Stadionordnung konsequent durchgesetzt werden muss. Ein Fußballstadion ist doch keine rechtsfreie Spielwiese, auf der sich jeder mal ein bisschen austoben kann.
Viel Konfliktstoff löst der Streit um die Pyrotechnik aus. Sehen Sie hier die Chance zum Kompromiss? Immerhin hat ihn der DFB ja selbst in Gesprächen mit den Ultras diskutiert…
Niersbach: …aber es hat nie irgendwelche Zusagen gegeben, das verbietet sich ja schon beim Blick in die Versammlungsstätten-Verordnung. Die Beschlusslage ist klar, hier wird es keinen Kompromiss geben. Pyrotechnik ist gefährlich, dafür gibt es keinen Platz in unseren Stadien. Und ich warte immer noch auf eine Erklärung, was daran Fankultur sein soll, wenn jemand eine 1000 Grad heiße Fackel abbrennt und Hunderten von Zuschauern vom Rauch die Augen tränen. Von Pyrotechnik geht vielmehr eine große Gefahr aus und sie ist mit unserer Verantwortung, jedem Zuschauer ein friedliches Stadion-Erlebnis gewähren zu wollen, schlichtweg nicht zu vereinbaren.
Konflikte mit der Fanbewegung der Ultras gibt es in einigen Vereinen; hier und da haben die Ultras gewissen Einfluss. Welche Hilfen kann der DFB den Klubs im Umgang mit diesen besonders aktiven und agilen Fans geben?
Niersbach: Ich kann nur noch mal eindringlich wiederholen: Wenn wir, der Verband und die Vereine, es bei einem Thema nicht an Geschlossenheit fehlen lassen dürfen, dann hier. Wenn an Standort A etwas genehmigt wird, was an Standort B und C verboten ist, dann haben wir schon ein großes Problem.
An der Basis des Fußballs wird es immer schwerer, genug Aktive und Ehrenamtliche zu finden. Wie wollen Sie dieses Problem angehen?
Niersbach: Die Probleme sind natürlich bekannt; wir freuen uns über 50.000 neue Mitglieder, aber wir wissen, dass diese überwiegend aus den Fanmitgliedschaften in den Profivereinen resultieren. . Wir müssen die Basis stärken, auch wirtschaftlich. Auf Initiative meines Vorgängers Theo Zwanziger fließen 22,7 Millionen Euro zusätzlich in die Landesverbände. Darüber hinaus müssen und werden wir eine Menge tun, aber wir brauchen auch die Unterstützung des Staates. Es kann nicht sein, dass der Staat auf der einen Seite das Ehrenamt und die Bereitschaft dazu fordert, dann aber von den ehrenamtlichen Mitgliedern so viel Bürokratie verlangt, dass sie die steuerliche Veranlagung ihrer Kostenerstattung ohne Steuerberater nicht hinkriegen, dann stimmt doch etwas nicht.
Verkauft der normale Sportverein seine Leistung nicht vielfach unter Wert?
Niersbach: Ja, wenn man einmal auflistet, was dafür geboten wird: Umkleidekabine, warme Dusche, Rasenplatz, ein ausgebildeter Übungsleiter, Bälle… Das alles gibt es für fünf Euro Monatsbeitrag, und zwar mehrfach im Monat. Wenn man dann sieht, dass eine Stunde in der kommerziellen Soccer-Halle 20 Euro kostet, kann man schon ins Grübeln kommen. Auf der anderen Seite haben wir einen Grundsatz, den wir auf jeden Fall halten wollen: Es soll niemand am Fußballspielen im Verein abgehalten werden, weil er sich das nicht leisten kann. Fußball muss für jedes Kind, jeden Jugendlichen, einfach Jeden bezahlbar bleiben.