Skandalöse „Schlacht von Santiago“
Stuttgart (dpa) - Die „Schlacht von Santiago“ gilt auch noch heute als eines der brutalsten Spiele bei einer Fußball-WM.
Die beiden deutschen Gruppengegner Chile und Italien bekämpften sich in der aufgeheizten Atmosphäre im mit 66 057 Zuschauern ausverkauften Estadio Nacional auf erschreckend aggressive Art mit mehreren Verletzten und Platzverweisen. „Ich habe kein Fußballspiel gepfiffen“, sagte Schiedsrichter Ken Aston einige Jahre nach diesem skandalösen 2. Juni 1962 in Santiago de Chile. „Ich habe als Schlichter in militärischen Manövern gehandelt.“
Schon nach zwölf Sekunden das erste Foul. In der achten Minute dann der erste Platzverweis, der von unglaublichen Umständen geprägt war: Als Referee Aston den italienischen Stürmer Giorgio Ferrini nach einem Foul an Honorino Landa vom Platz schickte, weigerte der sich lange. Chilenische Polizisten führten Ferrini schließlich ab, der sich laut protestierend und um sich tretend vergeblich dagegen wehrte. Erst nach einer achtminütigen Unterbrechung konnte die Partie fortgesetzt werden.
In der 41. Minute dann der zweite Platzverweis. Diesmal für Mario David. Erst hatte der Italiener seinen Gegenspieler Leonel Sánchez mehrmals schwer gefoult. Dann schlug ihn der Chilene nieder, ohne dass Aston dies geahndet hätte. In seiner Wut revanchierte sich David mit einem üblen Tritt an den Hals von Sánchez und musste gehen.
Damit waren die Unsportlichkeiten aber noch längst nicht vorbei: Sánchez brach Humberto Maschio mit einem linken Haken das Nasenbein. Immer wieder traten, schlugen und bespuckten sich die Kontrahenten. Um die Eskalationen einigermaßen in den Griff zu bekommen, rief der englische Unparteiische zwei weitere Male die Polizei um Hilfe. Chile gewann diese extrem unfaire und unwürdige „Batalla de Santiago“ schließlich 2:0.
Angeblich hatten italienische Journalisten mit abfälligen Berichten über die Zustände in Chile die aggressive Stimmung ausgelöst. Das südamerikanische Land hatte zwei Jahre zuvor das bis dahin schwerste Erdbeben erlitten und deshalb noch große infrastrukturelle Probleme. Einheimische Medien bauschten die Kritik auf, was die gereizte Atmosphäre weiter anheizte.
Die „Schlacht von Santiago“ hatte ein sportpolitisches Nachspiel: FIFA-Präsident Stanley Rous lud alle Funktionäre und Trainer der 16 Nationalmannschaften zu einer Aussprache ein. Dies hatte es in der WM-Geschichte noch nie gegeben. „Was soll nur die Jugend denken, wenn sie diese unglaublichen Entgleisungen von Spitzenspielern sieht?“, mahnte der Engländer alle Verantwortlichen zu Mäßigung und Fairness. „Wir müssen den Ruf des Turniers retten - helfen Sie mit, dass es im sportlichen Geist zu Ende geht. Es darf keinen Sieg um jeden Preis, kein nationales Prestige geben.“
Zudem führte dieser Skandal zur Einführung der Gelben und Roten Karten. Weil die Übeltäter - aber auch die Fans - es häufig nicht verstanden, dass sie eine Verwarnung oder einen Platzverweis erhalten hatten (oder so taten), plädierte Aston für die Einführung klarer Symbole. Bei der WM 1970 in Mexiko gab es dann Gelb und Rot.
Aber auch in anderen Begegnungen ging es rüde zu. Deutschland und Italien attackierten sich bei ihrem 0:0 ebenfalls weit über die Grenzen des Erlaubten. Und auch beim 2:1-Sieg der Truppe von Sepp Herberger über die Schweiz gab es Verletzte. Erschreckende Zwischenbilanz nach 24 Vorrundenspielen: Sechs Platzverweise und 30 verletzte Kicker.
Auch für den großen Pelé war das Turnier schon nach der zweiten Partie wegen eines Muskelrisses vorbei. Brasilien verteidigte dennoch souverän den Titel durch ein ungefährdetes 3:1 im Finale gegen die Tschechoslowakei. Chile schaffte mit Rang drei sein immer noch bestes WM-Resultat. Und für Deutschland war im Viertelfinale Schluss - so früh wie noch nie.