Brasiliens Ruhe vor dem Sturm
Rio de Janeiro (dpa) - Kleinere Proteste bei der Abfahrt in Rio de Janeiro und Ankunft in Teresópolis, eine abgefackelte Pokal-Replica im Vorbereitungsort, und Trainer Luiz Felipe Scolari musste zwischendurch zur Beerdigung seines Schwagers.
Ansonsten herrscht im Trainingscamp von Brasilien, dem Gastgeber und großen Favoriten der Fußball-WM, die Ruhe vor dem Sturm. Granja Comary ist schließlich nicht Passeiertal: Im Gegensatz zur deutschen Nationalmannschaft liefert die Seleção bisher keine Negativschlagzeilen. Zuviel der Harmonie? Scolari hat sein Team jetzt mit einer öffentlichen Kritik aufgerüttelt.
Überraschend deutliche Worte fand „Felipão“, der sonst meist schützend die Hand über seine Spieler hält. „Mir hat das Training überhaupt nicht gefallen. Alles war schlecht. Viele Dinge waren schlecht“, sagte „Felipão“ dem Fernsehsender SporTV zehn Tage vor dem WM-Eröffnungsspiel in São Paulo am 12. Juni gegen Kroatien. Scolari bezog sich dabei offensichtlich auf ein Übungsmatch zwischen seiner ersten Garde und den Reservisten. Dieses gewannen zwar die Stammspieler nach Toren von Marcelo (2) und Neymar, zeigten aber Schwächen in der Defensive.
Diskussionen, ob das Quartier rechtzeitig fertig wird, hat es beim Rekord-Weltmeister übrigens nie gegeben, obwohl der Brasilianische Fußball-Verband CBF seine 8500 Quadratmeter große Anlage etwa 100 Kilometer nördlich von Rio für einige Millionen hat renovieren und aufpolieren lassen: Die Schlüsselübergabe war schon im April. „Ich kenne keinen besseren Platz, um zu trainieren. Es ist gut geworden, alles bestens. Alles wurde für die Seleção verändert. Wir haben alles, um gut zu arbeiten“, lobte Scolari.
2006 vor der WM in Deutschland hatten die Brasilianer - unter dem damaligen Chefcoach Carlos Alberto Parreira - im schweizerischen Weggis ein Trainingslager aufgezogen, wo zeitweise der Trubel einer Sambaschule herrschte. 2010 in Südafrika schottete Carlos Dunga die Mannschaft rigoros ab - und scheiterte ebenfalls im Viertelfinale.
„Wir werden versuchen, die beiden Extreme zu vermeiden, nicht zu offen und nicht zu abgeschlossen. Unsere Priorität ist, dass die Spieler die Bedingungen haben, zu trainieren und das Oba-Oba (Halligalli) zu vermeiden. Granja ist anders, wir haben weder die Struktur noch die Sicherheitsbedingungen, um viele Fans zu empfangen“, erklärte ausgerechnet der geläuterte Parreira, inzwischen Technischer Direktor und Mitstreiter Scolaris.
Am Sonntag brachen die Brasilianer nach einer Woche mit medizinischen Tests und Training in Granja Comary ins Landesinnere nach Goiania zum vorletzten Testspiel an diesem Dienstag gegen Panama auf. Am Freitag geht es noch gegen Serbien.
Angeschlagen ist Kapitän Thiago Silva; gegen Panama könnte ihn in der Innenverteidigung Dante vom FC Bayern München ersetzen, neben dem Wolfsburger Luiz Gustavo der einzige Bundesliga-Profi im Kader. Ansonsten plagen Scolari - im Gegensatz zu seinem deutschen Kollegen Joachim Löw - keine größeren Ausfälle. Paulinho und Fernandinho werden aber ebenfalls geschont.
Stürmerstar Neymar, der beim FC Barcelona im April und Mai wegen einer Fußverletzung fehlte, ist nach Angaben von Mannschaftsarzt José Luiz Runco „wieder vollkommen hergestellt“ und habe in der Rehabilitation sogar an Muskelmasse zugelegt. Fitnesscoach Paulo Paixao ist sogar begeistert, wie sich Neymar sei dem Confederations Cup im vergangenen Jahr entwickelt hat: „Jetzt haben wir einen starken, gereiften Sportler.“
Das Team von Scolari steht weitgehend, es ist jenes, das im Finale der Mini-WM im vergangenen Jahr Weltmeister Spanien aus dem Maracanã gefegt hat. Trotz der bisher störungsfreien Vorbereitung steigt die Nervosität natürlich von Tag zu Tag. „Wie bei jeder Premiere erwarten wir eine komplizierte Partie. Das erste Spiel einer Fußball-WM ist spannungsgeladen, sogar noch mehr, weil wir zu Hause spielen. Diese Spannung wird ein Gegner mehr sein“, sagte Mittelfeldspieler Paulinho.