Gehörlosenschule bringt WM-Vokabelheft heraus

Horgenzell (dpa) - Kadirs Hände fliegen durch die Luft. Der 19-Jährige schaut gebannt auf den Bildschirm, auf dem Szenen der vergangenen WM zu sehen sind. In rasender Geschwindigkeit zeigt er eine Geste nach der anderen, ärgert sich über die Spieler, freut sich über ein besonders gelungenes Tor.

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Denn Kadir ist gehörlos - mit seinen Klassenkameraden an der Heimsonderschule Haslachmühle bei Ravensburg tauscht er sich am liebsten mit Gebärden über sein Lieblingsthema aus. Zusammen mit ihrem Lehrer Daniel Fabian haben sie nun eine Art Vokabelheft für die Fußball-Weltmeisterschaft zusammengestellt.

„Wir haben gemerkt, dass die Schüler zwar Gesten für Fußballbegriffe hatten“, sagt Fabian. „Die waren aber nicht systematisch und miteinander abgestimmt. Deswegen haben sie manchmal aneinander vorbeigeredet.“ Die Schüler nutzen teils Gesten aus der Deutschen Gebärdensprache, aber auch die einfacheren Zeichen aus der Sammlung „Schau doch meine Hände an“, die in den 80er Jahre an der Sonderschule entwickelt wurde. Insgesamt gibt es dort rund 1500 Gebärden.

Rund 80 000 Menschen in Deutschland sind nach Angaben des Deutschen Gehörlosen Bundes gehörlos. Die meisten davon kommunizieren vorwiegend in Gebärdensprache - einem visuellen Sprachsystem mit eigener Grammatik. Aber wenn es um Begriffe wie Abseits, dribbeln oder Einwurf ging, wurden die Schüler der Haslachmühle in ihren Wörterbüchern nicht so recht fündig. „Dadurch ist die Idee entstanden, selbst ein Heft zu machen“, sagt Fabian. Die Schüler und ihr Lehrer setzten sich mit ihrem „Kompetenzteam“ zusammen - darunter gehörlose Fußballfans und -spieler, Schiedsrichter und eine Dolmetscherin.

Manche Begriffe fanden sie im Internet, in Videos oder anderen Sammlungen. Einige mussten sie dagegen selbst entwickelten, wenn sie keine Entsprechung dafür finden konnten. So entstand zum Beispiel die Geste für den Fallrückzieher: Man streckt Zeige- und Mittelfinger nach unten aus und wirft die Hand anschließend nach hinten.

Dabei seien aber keine Gebärden „erfunden“ worden, schreibt Laura Schwengber auf ihrer Homepage. Die Dolmetscherin für Deutsche Gebärdensprache unterstützte die Jugendlichen der Haslachmühle bei ihrem Projekt. „Gebärden, für die keine Umsetzung zu finden war und die auch im Kompetenzteam nicht bekannt waren, wurden nach den üblichen Gebärdenbildungsprozessen entwickelt.“

So könne beispielsweise der Lautklang eines Wortes ein Motiv für eine Gebärde sein. Als Beispiel nennt Schwengber den Begriff „Ausschuss“, der als Geste aussehen könne wie „schießen“. Bei dem Wort „dribbeln“ sei der Zeigefinger zum Stellvertreter für den Spieler geworden, der die tatsächliche Bewegung des Spielers beim Dribbling nachmache.

Auch die Namen der Nationalspieler übersetzten die Schüler in Gebärden. Besonders leicht machten es dabei Namen mit einer konkreten Bedeutung: So wurde der Bayern-Profi Bastian Schweinsteiger mit der Umschreibung „das kletternde Schwein“ übersetzt, Philipp Lahm ist der „langsam Laufende.“

Kadirs Lieblingsgebärde ist aber die von Mesut Özil: Weil der Fußballer einen guten Blick für das Spielgeschehen habe, hebt man bei seiner Geste Daumen und Zeigefinger vor das Auge und öffnet sie dann. Aber ist Özil auch sein Lieblingsspieler? Der 19-Jährige, der von den Lippen lesen kann, schüttelt heftig den Kopf. Dann deutet er mit seiner rechten Hand eine Halbkugel über seinem linken Oberarm an. Das Zeichen ist für seine Mitschüler eindeutig: Für Kadir heißt der beste Spieler Cristiano Ronaldo.

Bei einem Fußballer bedauert Daniel Fabian, dass er es nicht in den Kader für die WM geschafft hat: Die Geste für Marcel Schmelzer sieht aus, als würde man einen riesigen Kaugummi in die Länge ziehen. So eine gute Gebärde - und dann darf der Spieler nicht mit nach Brasilien. „Da hätte Joachim Löw doch wirklich Rücksicht auf uns nehmen können“, sagt Fabian.