Immer mehr Brasilien-Stars kritisieren WM
Rio de Janeiro (dpa) - Die erste kritische Stimme zur Weltmeisterschaft in Brasilien hatte Socrates erhoben.
Ja, Socrates, der 2011 verstorbene einstige Kapitän der Seleção und Philosoph des Fußballs, prophezeite schon 2007, als das Land von der FIFA den Zuschlag für die WM erhielt: Die öffentlichen Gelder Brasiliens würden auf völlig undurchsichtige Weise für einen „Zirkus ohne Brot“ ausgegeben werden. Damals war Sócrates ein einsamer Rufer in der Wüste, inzwischen haben sich ihm viele brasilianische Stars angeschlossen - zuletzt gab es sogar kritische Töne von zwei einstigen Torjägern in offiziellen WM-Diensten: Pelé und Ronaldo.
Als inoffizielle Stimme der WM-Kritiker gilt längst Romário. Der rebellische Ex-Stürmer, seit 2010 Abgeordneter für die Partido Socialista im Bundesparlament, hat in seiner persönlichen Dauerfehde mit Pelé das Idol schon als „Dummkopf“ bezeichnet. FIFA-Präsident Joseph Blatter und dessen Generalsekretär Jérôme Valcke beschimpft er regelmäßig als „Erpresser“ und „Kriminelle“. Der Brasilianische Fußball-Verband CBF ist für ihn ein Nest von „Räubern, Ratten und Banditen“, die FIFA und das lokale WM-Organisationskomitee COL seien „korrupte und skrupellose Einrichtungen“.
„Ich bin nicht gegen die WM, sondern gegen die exzessiven Kosten der WM, die erforderlich sind, um diese Weltmeisterschaft durchzuführen“, erklärte Romario. Sein früherer Sturmpartner Bebeto - die beiden hatten 1994 Brasilien zum WM-Triumph geschossen - seufzte mal: „Ich wünschte ihn auf unserer Seite mit Ronaldo und mir.“ Aber selbst Bebeto, der für die Arbeiterpartei im Regionalparlament von Rio de Janeiro sitzt, hat schon mal vehement vom Gouverneur gefordert, die massiv gestiegenen Kosten für das Maracanã zu erklären.
Vergangene Woche hat sich überraschenderweise ausgerechnet Organisationsmitglied Ronaldo den WM-Kritikern angeschlossen. Die Aussagen des einstigen Torjägers gingen zwar nicht gegen das Endrundenturnier primär, aber gegen die nicht gehaltenen Versprechen bei der Umsetzung der Infrastrukturprojekte im Gastgeberland.
„Alles, was versprochen und nicht erbracht wurde. Es gibt Statistiken, (...) dass nur 30 Prozent (der Projekte) zur WM abgeliefert werden, das ist meine Sorge und meine Scham. Den größten Schaden hat die Bevölkerung“, sagte der dreimalige Weltfußballer des Jahres und meinte: „Ich glaube, die FIFA wird keine weitere WM mehr hier ausrichten wollen. Sie wird traumatisiert sein.“
Sogar Pelé hatte kürzlich in einem Interview mit Blick auf die WM-Vorbereitungen das Wort „Vergonha“ (Schande, Scham) in den Mund genommen. „Es ist inakzeptabel, dass einige Stadien nicht fertig geworden sind. Wir hatten viele Jahre Zeit - weit mehr als genug.“
Roberto Rivelinho, der Fußballer mit dem Schnauzbart und dreifacher WM-Teilnehmer, beklagte kürzlich in einem „Tagesspiegel“-Interview: „Die WM ist bis jetzt eine verpasste Chance für Brasilien. Es hätte etwas Großes sein können, aber das Geld wurde in allen Bereichen verschwendet. Es gibt keine Nachhaltigkeit. Null. Fußball ist das Spiel des Volkes - es ist aber dem Volk weggenommen worden.“
Ex-Nationaltorwart Rogério Ceni, der in seiner Karriere mehr als 100 Tore per Freistoß oder Elfmeter erzielt und seit 1992 für den FC São Paulo über 1100 Spiele gemacht hat, kritisierte im Sportmagazin „Kicker“: „Ich befürchte, dass sich viele Ausgaben nicht amortisieren werden, zum Nachteil brasilianischer Firmen.“ In 80 Prozent der staatlichen Schulen gebe es keine Bolzplätze, sagte er zudem.
Die ehemaligen Fußball-Stars und ihre öffentlichen Anklagen stehen für ein gewandeltes politisches Bewusstsein in Brasilien. Die Bevölkerung wisse, sagte Raí in einem Interview der „Süddeutschen Zeitung“, dass viele Probleme gelöst werden müssten, die abseits des Fußballs liegen. Der Weltmeister von 1994 ist ein Bruder des verstorbenen Socrates. „Der Fußball ist und bleibt die Passion meines Landes, aber die exzessive Wichtigkeit, die dem Fußball früher eingeräumt wurde, ist nicht mehr da. Ich glaube, wenn Brasilien die WM verlieren sollte, wäre das keine große Tragödie“, sagte der 51-Jährige.