Klinsmann genießt sein US-Sommermärchen
Recife (dpa) - Jürgen Klinsmann jubelte so schön wie 2006 - und träumte im Dauerregen von Recife schon vom Sommermärchen reloaded. Völlig durchnässt klatschte er nach dem 0:1 gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber Deutschland die Hände über dem Kopf zusammen.
Dann ruderte er wie wild mit beiden Armen durch die Luft und genoss die Huldigungen der US-Fans. Durch den Einzug ins WM-Achtelfinale hat der amerikanische Coach den ersten Teil seines Versprechens eingelöst. Er wolle die USA wieder in die Nähe der Top-Nationen führen, hatte er angekündigt. Dafür wurde der 49-Jährige belächelt. Mittlerweile hat er sich bei der internationalen Konkurrenz Respekt verschafft und selbst im wenig fußballaffinen Amerika eine ungeahnte Euphorie entfacht. Der Sportsender ESPN kommentierte auf Deutsch: „Danke Herr Klinsmann.“
Und in der Runde der letzten 16 gegen den keineswegs unantastbaren Geheimfavoriten Belgien am kommenden Dienstag in Salvador wollen Jermaine Jones & Co. noch mehr. „Jetzt beginnt ein anderes Turnier, jetzt geht es richtig los“, sagte der frühere Bundestrainer, als er für die Pressekonferenz seine durchnässte Khaki-Hose und die pitschnasse Team-Sportjacke gegen einen Trainingsanzug mit blauer Hose und roter Jacke eingetauscht hatte.
Nach der Rückkehr nach Sao Paulo legte er noch einmal nach: „Ich habe heute alle Spieler nach dem Frühstück gefragt, ob sie ihre Flüge wirklich erst am Tag nach dem Finale gebucht haben“, meinte Klinsmann. „Wer diese Gruppe überstanden hat, kann noch mehr erreichen.“ Auf das Weiterkommen dürfe man jetzt zwar „eine Sekunde lang stolz sein“. Aber vor allem mache das „noch mehr Hunger für den nächsten Schritt. Und das ist jetzt, Belgien zu schlagen.“ Das US-Team will die Begeisterung in der Heimat nutzen, um Soccer dort noch populärer zu machen. Vor acht Jahren lag Fußball in der Popularitätsskala amerikanischer Sportfans sogar noch hinter der Profi-Bowling-Tour der Frauen.
Selbst US-Präsident Barack Obama verfolgte das 0:1 am Fernseher - und zwar über den Wolken im Konferenzraum seines Flugzeuges „Air Force One“ auf dem Weg nach Minneapolis - ganz amerikanisch mit Chips, Erdnüssen und Cola, wie auf einem Twitter-Bild zu sehen war. Im Kongress in Washington wurden Abstimmungen verschoben, die Sprecherin des US-Außenministeriums, Marie Harf, zog die tägliche Pressekonferenz extra um mehrere Stunden vor und erschien dann im USA-Sweatshirt. Auch auf Fanmeilen in Chicago oder Kansas City feierten Tausende Soccer-Fans trotz des 0:1 durch Thomas Müller.
In der Arena Pernambuco schallten Klinsmann „USA, USA“-Rufe entgegen. Männer mit riesigen rot-weiß-blauen Hüten und Regenponchos schüttelten ungläubig den Kopf, Frauen in Stars-and-Stripes-Bikinis tanzten ausgelassen auf den Tribünen. „Mission erfüllt. Verlieren hat noch nie so süß geschmeckt“, schrieb der „Miami Herald“. Für Klinsmann fühlte sich die Niederlage gegen seinen Bundestrainer-Nachfolger Joachim Löw sowieso wie ein Sieg an.
Acht Jahre nach dem WM-Zauber in Deutschland schreibt er mit seiner US-Auswahl gerade sein ganz eigenes Fußball-Märchen 2014. In der schweren Gruppe G mit seinem ehemaligen Arbeitgeber Deutschland, den Portugiesen um Weltfußballer Cristiano Ronaldo und dem erstaunlich starken Ghana führte er die US-Boys immerhin als Zweiter ins Achtelfinale. „Wir wachsen mit jedem Spiel und nehmen so viel Gutes mit“, sagte der Motivationsmeister nach den intensiven 94 Minuten.
Die Auswahl mit Bundesliga-Spieler Fabian Johnson, dem Ex-Schalker Jones oder Kapitän Clint Dempsey hat Experten und Gegner verblüfft. In allen Spielen präsentierten sich die US-Kicker topfit, kampfstark und taktisch-spielerisch gereift. Einziger kleiner Wermutstropfen: Jones erlitt im Spiel gegen Deutschland einen Nasenbeinbruch, wird aber nach Angaben des US-Verbands gegen Belgien mit einer Maske spielen können.
„Ich sehe die Chancen bei 50:50. Wer im Achtelfinale steht, hat das verdient. Und die Amerikaner hatten eine schwere Gruppe“, sagte Belgiens Nationaltrainer Marc Wilmots. Innenverteidiger Nicolas Lombaerts warnte berechtigterweise: „Die USA standen in der Gruppe vor Portugal, also können sie kaum schwächer sein.“
Kurz vor WM-Beginn wollten beide Nationen eigentlich ein Testspiel gegeneinander austragen, sagten die Partie aber kurzfristig wegen der Reisestrapazen ab. „Ich habe schon damals gesagt: Wieso spielen wir überhaupt gegen Belgien? Die sehen wir doch im Achtelfinale schon wieder“, scherzte Klinsmanns Assistent Andreas Herzog beim Verlassen des Stadions. Erstaunlicherweise hat er recht behalten.