Nach Elfer-Nervenkrimi: Brasilien darf weiterträumen

Belo Horizonte (dpa) - Die Gesänge tönten durchs Estádio Mineirão und das ganze Land: „O Campeão voltou“ - „Der Champion ist zurück“. Nach dem Elfmeterkrimi gegen Chile darf Brasilien weiter auf den sechsten WM-Titel hoffen.

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Das 200-Millionen-Volk atmet erstmal auf.

„Es ist nicht leicht, zu Hause eine WM zu spielen. Wir sind uns bewusst, dass wir die Verpflichtung haben, Weltmeister zu werden. Die Menschen träumen davon“, sagte ein sichtlich geschaffter Nationaltrainer Luiz Felipe Scolari nach dem Nervenspiel. Die Seleção muss sich nun im Viertelfinale auf einen weiteren südamerikanischen Kracher gegen das Überraschungsteam Kolumbiens einstellen.

Weinende Spieler, Zuschauer am Rande eines Herzinfarkts, Rangeleien im Kabinengang - während und nach des über zweistündigen Dramas von Belo Horizonte lagen überall die Nerven blank. Vier der 57 714 Zuschauer erlitten nach Angaben lokaler Medien beim 3:2 des WM-Gastgebers im Elfmeterschießen eine Herzattacke, nach ersten Meldungen verlief jedoch keine tödlich. „Die Leute müssen eben vor der WM zum Arzt gehen und sich untersuchen lassen. Während der WM nützt das nichts mehr“, meinte Scolari kurz nach dem Thriller noch im Scherz. „Felipão“ wusste zu dem Zeitpunkt allerdings nichts von den Vorfällen auf den Rängen.

In der 120. Minute war Scolari, seinen Spielern und den brasilianischen Fans beinahe das Herz stehengeblieben: Chiles Mauricio Pinilla traf die Latte - nur ein paar Zentimeter fehlten und der Rekord-Weltmeister wäre erstmals seit 1990 bereits im Achtelfinale draußen gewesen. In der regulären Spielzeit des ungemein intensiven und immer spannenden Spiels hatte Alexis Sanchez (32.) die brasilianische Führung durch ein Tor von David Luiz (18.) ausgeglichen.

Im Elfmeterschießen wurde ausgerechnet Torwart-Oldie Júlio Cesar zum Helden. Der 34-Jährige parierte gegen Pinella und Sanchez, beim letzten Schuss von Gonzalo Jara an den Pfosten musste er nicht mehr eingreifen. „Vor vier Jahren, da war ich sehr traurig. Jetzt weine ich wieder, aber vor Glück. Nur Gott und meine Familie wissen, was ich durchgemacht habe. Meine Geschichte in der Seleção ist noch nicht zu Ende“, sagte ein aufgelöster Cesar nach Spielschluss. Beim Viertelfinal-Aus 2010 in Südafrika gegen die Niederlande hatte der Keeper noch ein Gegentor verschuldet.

„Das ist ein besonderer Tag für jeden von uns. Jetzt können wir ein bisschen durchatmen.“ Das galt auch für Staatspräsidentin Dilma Rousseff. „Danke Jungs. Mit Mühe, Tränen und den Paraden von Júlio Cesar haben wir es geschafft“, twitterte sie.

Chiles sonst so beinharter Abwehrchef Gary Medel weinte hemmungslos nach dem so bitteren Aus. Brasiliens neuer Stürmerstar Neymar, der den fünften Strafstoß für die Seleção nervenstark verwandelte, sank auf den Rasen und vergoss ebenfalls ein paar Tränen. Dann schleppte sich der 22-Jährige über den Platz und tröstete seine Gegenspieler. Trainer Jorge Sampaoli wollte keine Komplimente hören für den erbarmungslosen Einsatz seiner Spieler: „Moralische Siege zählen nicht.“

Nicht nur auf dem Platz, sondern auch am Spielfeldrand und in den Katakomben lieferten sich beide Teams einen erbarmungslosen Kampf ums Weiterkommen. Scolari beklagte sich über das Betreuerteam Chiles und kündigte an: „Ich bin gut erzogen, aber wenn ich mich dauernd angegriffen fühle, dann werde ich meinen Stil ändern. Der Gegner hat sich ständig beim vierten Schiedsrichter beschwert.“

In der Pause kam es im Kabinengang zu einem Gerangel zwischen Betreuern und Spielern. Dabei soll sogar Brasiliens Pressesprecher Rodrigo Paiva Pinilla einen Faustschlag abgegeben haben, was dieser bestritt, seine chilenische Kollegin aber behauptete: „Es gibt ein Video davon.“

Doch Scolari hat andere Sorgen als ein mögliches Nachspiel dieser Szene. Auf dem Weg zur angestrebten „Hexacampeão“ wartet am Freitag (22.00 Uhr MESZ) mit Kolumbien eine überaus spielstarke Mannschaft. 2006 und 2010 war Brasilien jeweils im Viertelfinale ausgeschieden, das Drama gegen Chile könnte der Mannschaft aber auch die nötige Härte für die nächsten Herausforderungen geben.

Der Wolfsburger Luiz Gustavo muss nach seiner zweiten Gelben Karte allerdings erstmal zuschauen - und hoffen, dass er in einem möglichen Halbfinale gegen Deutschland wieder auflaufen darf. Ein „Maracanazo“ wie 1950 - als WM-Gastgeber Brasilien mit einem 1:2 gegen Uruguay im letzten Spiel den Titel vergab und für ein nationales Trauma sorgte - braucht Scolaris Team nicht mehr zu fürchten: Die „Urus“ sind draußen. Zu einem „Mineirazo“ von Belo Horizonte fehlte allerdings nicht viel.