Neymar-Verletzung: Ein brasilianisches Melodram

Warum die schwere Verletzung Neymars und die inszenierte Abreise für die Seleção eine historische Chance bietet.

Das Foul und seine Konsequenzen: Neymar grüßt vorsichtig aus dem Helikopter...

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Fortaleza/Teresópolis. Sind es diese bewegenden Bilder, die bleiben? Wie Neymar junior, die Baseballkappe windschief übergestülpt, festgeschnallt auf dem Krankenbett in den wartenden Hubschrauber geschoben wird. Wie er den Oberkörper mühsam aufrichtet, vorsichtig winkt, ehe die Rotorblätter sich immer schneller drehen. Wie sich die Tür des Helikopters schließt — und der Superheld entschwindet. Direkt aus dem Mittelkreis von einem Fußballplatz auf dem Trainingscamp der brasilianischen Nationalmannschaft in Teresópolis.

... und richtet eine Videobotschaft an die brasilianischen Fans.

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Kaum ein Sender im Land, der bei diesem Ereignis nicht live zugeschaltet war — und es später in Endlosschleife wiederholte. Jedes Kind aus dem 200-Millionen-Volk weiß seit diesem verwirrenden Wochenende, wo der Querfortsatz des dritten Lendenwirbels sitzt. Dort hat der Star der Seleção eine schmerzvolle Fraktur erlitten, als ihn im Estadio Castelao von Fortaleza am Freitag das Knie des Kolumbianers Juan Zúñiga traf.

Das Foul von Zuniga.

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Der 22-Jährige muss jetzt ein Stützkorsett tragen, vier, eher sechs Wochen Zwangspause werden veranschlagt, doch — das ist die gute Botschaft — bleibende Schäden hat der filigrane Körper nicht zu fürchten. Neymar soll sich bei der Familie in Guaruja an der Küste erholen. Auf einer Pressekonferenz äußerte der Mannschaftsarzt José Luiz Runco die Möglichkeit, dass Neymar am Dienstag nach Belo Horizonte zum Halbfinale gegen Deutschland kommen könne, wenn er sich gut fühle. Auf einer von seinem Fußballverband (CBF) verbreiteten Videobotschaft hörte er sich am Samstag auch schon viel besser an als am Freitag. „Mir fehlen die Worte, um das zu beschreiben, was in meinem Kopf und meinem Herzen vorging.“ Dann bedankte sich der Nationalheilige für die gewaltige Anteilnahme, die sogar in eine aufmunternde Botschaft der Staatspräsidentin Dilma Rousseff mündete, und Neymar sagte das, was alle hören wollen: „Mein Traum als Spieler ist ein WM-Finale. Aber der Traum vom WM-Titel ist noch nicht vorbei. Meine Teamkollegen werden alles tun, um diesen Pokal zu heben.“

Soll bloß keiner denken, der Gegner aus Alemanha habe leichtes Spiel, nur weil ich, Neymar, fehle. Nebenbei übrigens auch noch der gesperrte Kapitän Thiago Silva. Die Defensive kann trotzdem stabil stehen, nur wie soll das ohne den vierfachen WM-Torschützen gehen, auf den in der Offensive alles angelegt war? „Jetzt müssen wir für ‚Ney‘ spielen und noch mehr Krieger sein. Wir werden einen Pakt schließen“, versicherte David Luiz, der im ersten Moment bitterlich geheult hatte. Aber: Die Trophäe ohne Neymar zu gewinnen, das wäre unendlich viel mehr wert. Denn der wahre Anführer ihrer Elf war die Nummer zehn noch nie; schon im Achtel- und Viertelfinale hatte sich das leidenschaftliche Ensemble unbemerkt kollektiv von ihrem Individualisten emanzipiert — die drei Tore in den zwei K.o.-Duellen haben alle Verteidiger erzwungen, zwei Luiz, eines Silva.

Und ohne den jungen Übervater besteht plötzlich etwas, was die Figuren in den sonnengelben Hemden bislang nirgendwo vorfanden: eine Erklärung für ein Scheitern. Die entscheidende Chance, die sich aus der Absenz des prominentesten Spielers bietet, den wohl der junge Oscar vertritt.

Wie konnte es dazu kommen? Brasiliens Nationaltrainer Luiz Felipe Scolari prangerte die Fouls an, die ihm schon länger aufgefallen seien, „aber man hat mir ja nicht zuhören wollen“. Tatsächlich war seine kickende Ikone häufiger nach diversen Attacken mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden gegangen, jedoch stets schnell wieder aufgestanden. Diesmal blieb er liegen. Und schrie wegen der höllischen Schmerzen weiter, als ihn Helfer in einer Kunststoffwanne durch die Katakomben trugen. Und weil die Kameras folgten, litt das Land mit. „Fora da Copa“ verbreitete sich hernach wie ein Lauffeuer — Aus für die WM.

Der brasilianische Fernsehsender „SporTV“ übertrug teilweise live aus dem Krankenhaus São Carlos in Fortaleza. Daraufhin strömten Hunderte vom Partystrand Beira-Mar und der Fanmeile in Iracema zum Hospital — und viele vergossen ebenso viele Tränen wie ihr Idol. Als Neymar auf einer Rolltrage aus der Klinik geschoben wurde, bedeckte ein weißes Handtuch das weinende Gesicht. Der Charterflieger mit der Mannschaft zurück Richtung Rio de Janeiro hob erst ab, als der Heroe im Krankenwagen herangekarrt wurde. Nach der Landung bestieg der Vater das Ambulanzfahrzeug, und der Verband verbreitete selbst die Bilder, wie der im Rollstuhl sitzende Stürmer am Flughafen von seinen Kollegen getröstet wurde. Mehr Melodram geht nicht. Der unwirkliche Personenkult erreichte eine absurde Dimension.

Zur Zielscheibe des brasilianischen Volkszorns wurde der Übeltäter, der sogar Morddrohungen erhielt — noch eine Folge der wahnwitzigen Überhöhung. Zúñiga war gut damit beraten, über die Plattform Instagram eine Entschuldigung zu formulieren: „Ich bin bekümmert über diese Situation, die sich aus einer normalen Aktion ergeben hat“, schrieb der 28-jährige und teilte in Richtung des Verletzten mit: „Ich bewundere, respektiere dich und erachte dich als einen der besten Spieler der Welt.“ 54 geahndete Fouls zählten die Statistiker nach diesem Viertelfinale — bei der Szene, über die die Welt diskutiert, lief der ungezügelte Schlagabtausch übrigens wegen der Vorteilsauslegung weiter.