Poltergeist & Vaterfigur: Brasilien vertraut „Felipão“
Belo Horizonte (dpa) - Luiz Felipe Scolari trägt seit eineinhalb Jahren standhaft und humorvoll die enormen Erwartungen Brasiliens für die Fußball-WM.
„Wer war der letzte Trainer, der mit Brasilien die Weltmeisterschaft gewonnen hat? Ich. Wenn ich die WM diesmal nicht gewinne, dann werde das noch immer ich sein“, scherzte der Nationaltrainer mal mit Blick auf seinen Triumph 2002 mit der Seleção. Jetzt hat der 65-Jährige, den alle nur „Felipão“ („Großer Felipe“), nennen, seine Mannschaft schon bis ins Halbfinale gebracht. Und damit weiter als seine Vorgänger Carlos Dunga 2010 in Südafrika und Carlos Alberto Parreira 2006 in Deutschland.
Mit einem Sieg im Endspiel am 13. Juli würde Scolari Fußball-Geschichte schreiben: Zweimal Weltmeister als Chefcoach war bisher nur der Italiener Vittorio Pozzo 1934 und 1938. 200 Millionen Brasilianer hoffen, dass er Deutschland aus dem Turnier wirft und ihnen dann im legendären Maracanã die größte Fußball-Party der Geschichte beschert.
Auch WM-Toptorjäger Ronaldo, der vor zwölf Jahren in Yokahama beim 2:0-Finalerfolg gegen Deutschland unter Scolari den WM-Titel holte, vertraut dem Fußballlehrer aus Passo Funde - obwohl Brasiliens Superstar Neymar mit einem Lendenwirbelbruch für den Rest des Turniers ausfällt. „Ich kenne Felipão sehr gut, und er ist ein wirklich hervorragender Motivator. Ich bin sicher, dass er seine Spieler in dieser Situation aufmuntern wird, vor allem denjenigen, der Neymars Posten übernimmt“, meinte Ronaldo in einem Interview auf fifa.com. „Ich glaube, dass er die Mannschaft unter Kontrolle hat.“
Scolari ist einer, der die Spieler oft in den Arm nimmt, der von einer „Familie“ bei der Seleção spricht, auch wenn das im heutigen Profigeschäft ziemlich altmodisch klingt. Die Spieler aber vertrauen ihm - weil Scolari ihnen vertraut: Wie ein Löwe verteidigt der einstige Abwehrspieler sie. Der so oft kritisierte Mittelstürmer Fred ist ein gutes Beispiel dafür; regelmäßig hält der redselige „Felipão“ Elogen auf ihn. Mit einer an Altersstarsinn grenzenden Beharrlichkeit hält Scolari an seiner Elf vom Confed-Cup vom vergangenen Jahr fest. Nur der oft wirkungslose Mittelfeldspieler Paulinho musste zwischendurch das Feld räumen.
Beim WM-Triumph 2002 hatte der Nationaltrainer seinen Spielern Zettel mit Weisheiten oder Motivationssprüchen unter der Zimmertür durchgesteckt. Sein Psychotrick dieses Mal könnte Neymars kurze Rückkehr ins Trainingscamp in Teresópolis nach dem folgenschweren Kolumbien-Spiel gewesen sein. Um den Schock nach dessen WM-Aus zu mindern, sprach Neymar seinen Teamkameraden noch Mut zu und ließ eine Videobotschaft veröffentlichen. „Sie werden den Titel holen, und ich werde bei der Mannschaft sein. Ganz Brasilien wird zusammen feiern“, versprach der Stürmer, bevor er in einem Hubschrauber nach Hause gebracht wurde.
Zuvor hatte es Scolari aber trotz lockerer Sprüche und intensiver Vorbereitung lange nicht geschafft, seinen Spielern den riesigen Druck als Favorit und WM-Gastgeberteam zu nehmen. Er selbst wusste genau, auf was er sich einlässt, als er im November 2012 seine zweite Amtszeit antrat. „Wenn ich nicht davon überzeugt bin, dass wir die Weltmeisterschaft gewinnen können, dann hätte ich diesen Job nicht übernommen“, sagte er damals.
Im Gegensatz zu 2002, als ihm Weltklassespieler wie Ronaldo, Rivaldo, Roberto Carlos, Kapitän Cafú und der junge Ronaldinho zur Verfügung standen, fehlt Scolari ausgerechnet jetzt eine herausragende Fußballer-Generation. Die Debatte über den psychischen Zustand seines Teams geht ihn zudem auf die Nerven. So poltert Scolari - nicht mehr ganz so gelassen - schon mal gegen Schiedsrichter. Wer ihn nicht verstehe, erklärte er kürzlich in einem Streit mit Journalisten, „der fahre zur Hölle.“
Authentisch ist Brasiliens Nationaltrainer wie kaum einer seiner Kollegen. Pressekonferenzen sind mit Scolari wenigstens keine PR-Veranstaltung, sondern mitunter kleines Kino. Und am Spielfeldrand steht Scolari im Polohemd und Trainingsanzug.
Sein Vertrag endet - wie es beim Brasilianischen Fußball-Verband (CBF) mittlerweile üblich ist - mit dem Endrundenturnier. Carlos Alberto Parreira, Weltmeistermacher von 1994, Technischer Direktor und Scolaris enger Vertrauter, glaubt nicht, dass dieser danach wieder ein Traineramt übernimmt. Er werde sich künftig wohl seiner echten Familie widmen. Scolaris Schwiegertochter erwartet den ersten Enkel für „Felipão“, der längst wie ein Großvater aussieht und für die Mannschaft eine Vaterfigur ist.