Jochen Fraatz: „König des Drehers“ wird 50 Jahre alt
Nordhorn (dpa) - Jochen Fraatz hat seinen Platz im Geschichtsbuch des Handballs sicher. Der Linksaußen, der am 14. Mai in Nordhorn seinen 50. Geburtstag feiert, hat als Torjäger Bestmarken gesetzt.
Berühmt wurde er durch einen Trickwurf: Den vom sowjetischen Nationalspieler Aleksander Karschakewitsch erfundenen „Dreher“ entwickelte er bis zur Perfektion weiter. Mit viel Effet wird der Ball bei Würfen aus spitzem Winkel meist als Aufsetzer um den Torhüter herum gezirkelt.
Beim TuSEM Essen hatte Trainer Petre Ivanescu ihm den „Dreher“ verboten. Doch dann lag der TuSEM beim TBV Lemgo kurz vor Schluss mit einem Tor zurück. Fraatz wagte den „Dreher“ - Ausgleich, probierte ihn beim nächsten Angriff noch einmal - Führung. Sein Team gewann, und in der Kabine soll der aus Rumänien stammende Ivanescu geknurrt haben: „Bist du bescheuert ... aber war gut!“
„Eine Portion Widerspruch gehört dazu“, sagt Fraatz. Als der gebürtige Cuxhavener, den alle nur „Scholle“ riefen, 2001 seine beeindruckende Karriere offiziell beendete, bilanzierte er neben acht Titeln mit TuSEM Essen Olympia-Silber bei den Spielen 1984 in Los Angeles. Trainer Simon Schobel würdigte ihn damals: „So einer wie Scholle wird nur alle 100 Jahre geboren.“
Die Olympia-Medaille wird neben dem Silbernen Lorbeerblatt, mit dem er zweimal ausgezeichnet wurde, sorgsam daheim in Nordhorn in einer Vitrine aufbewahrt. Ebenso viel wert sind Fraatz die Vize-Weltmeisterschaft 1983 mit den DHB-Junioren sowie die vier Berufungen in die Weltauswahl. Zu den Schattenseiten seiner Karriere im Nationalteam, für das er in 187 Länderspielen mehr als 800 Tore erzielte, zählt der zwischenzeitliche Absturz in die C-Gruppe.
Von Essen wechselte „Scholle“ 1996 zur HSG Nordhorn in die 2. Bundesliga. „Das war ein Meilenstein für uns“, sagte später Manager Bernd Rigterink, der die deutsche Linksaußen-Legende in die niedersächsische Provinz lockte. Der zweifache „Handballer des Jahres“ (1988 und 1991) bescherte der HSG dank seiner Prominenz bundesweites Aufsehen und hatte mit seinen Toren großen Anteil am Aufstieg 1999.
Als er 2001 wegen Knieproblemen abtrat, wurde er mit dem „Handball-Oscar“ für sein Lebenswerk geehrt. „Ich werde nicht mehr spielen, auch nicht in der Regional- oder Oberliga“, sagte der Torschützenkönig von 1991 und 1992 zum Abschied - und wurde doch rückfällig. 2002 half er beim TBV Lemgo aus, 2004 sprang er in der Bundesliga-Relegation beim SV Post Schwerin ein und verhalf den Mecklenburgern zum Aufstieg. Und 2009 bewahrten seine Tore den DSC Wanne-Eickel im entscheidenden Spiel vor dem Abstieg aus der Bezirksliga.
Danach war die außergewöhnliche Karriere endgültig beendet. Mit 2683 Toren in 438 Bundesligaspielen für Essen, Nordhorn und Lemgo führte der „Dreher-König“ lange die ewige Torschützenliste der Liga an, bis ihn 2007 der Koreaner Kyung-Shin Yoon (2905 Tore für Gummersbach und Hamburg) ablöste.
Dass er keine Karriere als Erstliga-Trainer eingeschlagen hat, bereut Fraatz nicht. „Ich bin bodenständig und wollte nicht alle drei Jahre umziehen“, sagte er. Das habe er vor allem der Familie nicht zumuten wollen. Eine Zeit lang wirkte er als Co-Trainer in Nordhorn und saß 2008 beim Europacup-Sieg neben Cheftrainer Ola Lindgren auf der Bank. Als Jugendtrainer engagiert er sich weiter bei der HSG. „Das bedeutet mir mehr als Titel zu gewinnen“, versichert er.