DLV-Sportchef Kurschilgen: Medaillenspiegel keine Monstranz
Amsterdam (dpa) - Die Enthüllungen über Lug und Betrug in der russischen Leichtathletik haben den Zweifel an der Aussagekraft von Medaillenspiegeln genährt.
Was sind die 161 Edelplaketten, die Russland bei Leichtathletik-Europameisterschaften seit 1994 gewonnen hat, vor dem Hintergrund des systematischen Dopings in diesem Sportreich wert? Der Deutsche Leichtathletik-Verband hat längst aufgegeben, Medaillen als Maß aller Dinge für Erfolg zu verehren.
„Wir sollten den Medaillenspiegel nicht wie eine Monstranz vor uns tragen“, sagte DLV-Sportdirektor Thomas Kurschilgen bei der EM in Amsterdam. Er könne keine differenzierte Auskunft über die Leistungsfähigkeit eines Verbandes oder der individuellen Leistung eines Athleten geben. „Die Wirklichkeit des Spitzensports ist viel zu komplex, als dass sich das in einem plakativen Medaillenspiegel abbilden lässt.“
Auch ohne das ständige Schielen auf einen fragwürdigen Medaillenspiegel und ohne tägliche Wasserstandsmeldungen zu vermeintlichen Medaillenprognosen hätte der DLV in den zurückliegenden Jahren stets eine hochengagierte, willensstarke und erfolgreiche Nationalmannschaft gehabt. „Man sollte sich lieber mit den Athleten über ihre individuellen Erfolge und über spannende, mitreißende Wettbewerbe freuen“, meinte Kurschilgen.
Der DLV und auch andere Verbände haben sich von der Fixierung auf Medaillen abgekehrt, nicht aber der Deutsche Olympische Sportbund und die Politik. In den sogenannten Zielvereinbarungen wurde für die Sommerspiele in Rio de Janeiro zwischen DOSB und den 28 Verbänden ein Medaillenkorridor von 38 bis 68 Medaillen ermittelt. Jeder Verband musste vor drei Jahren mitteilen, wie viele Medaillen er bei Olympia 2016 erwartet. „Wir wollen das Ergebnis von London 2012 erreichen oder möglichst verbessern, das heißt 44 Medaillen“, hatte DOSB-Sportchef Dirk Schimmelpfennig als Rio-Ziel vorgegeben.
Was gibt es jedoch nicht alles an Unabwägbarkeiten im Sport? „Je mehr systematisch geförderte Athleten zahlreicher Nationen beispielsweise eine Sportart oder Disziplin betreiben, desto ausgeglichener ist der Wettbewerb und die Leistungsfähigkeit“, erklärte Kurschilgen, „desto mehr entscheidet vielfach das kleine Quäntchen Glück, der richtige Wind, die Bahnverteilung oder der Rennverlauf über den Medaillengewinn oder den Einzug ins Finale.“
Außerdem stehe hinter dem eifrigen Medaillenzählen ein fragwürdiges Sportverständnis, wenn nur Edelmetall das Ziel und der alleinige Bewertungsmaßstab sei. „Werden Medaillengewinn als Erfolg und ein nicht erreichtes Finale als Niederlage bewertet, dann wird der einzelne Athlet nur Mittel zum Zweck in der Betrachtung der Sportfunktionäre“, kritisierte Kurschilgen.
Außerdem würden sportliche Ergebnisse immer mehr durch systematisch organisiertes Doping beeinflusst werden: „Auch das findet im Medaillenspiegel keine Berücksichtigung.“ Ein Geheimnis ist schon lange nicht mehr, dass auch Rekorde durch Doping an Wert und Bewunderung verloren haben. „Priorität muss nach meiner Ansicht haben, in interessanten Duellen und spannenden Wettkämpfen bei Meisterschaften sich bestmöglich zu platzieren“, sagte Kurschilgen. „Der Rekord ist gegebenenfalls dann ein Nebenprodukt.“