Keine Gnade für russische Leichtathleten - Putin: „Unfair“
Wien (dpa) - Keine Gnade für die skandalumwitterten russischen Leichtathleten: Die Läufer, Springer und Werfer der stolzen Sportnation dürfen nach den zahlreichen Dopingskandalen nicht an den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro teilnehmen.
Das Council des Weltverbandes IAAF verlängerte die seit November 2015 wirksame Suspendierung des nationalen Verbandes WFLA. „Die russische Anti-Doping-Agentur ist frühestens in 18 bis 24 Monaten wieder regelkonform“, teilte die IAAF in Wien mit.
„Der Chefcoach des russischen Teams und viele Athleten waren unwillig, das Ausmaß des Dopingproblems in der Leichtathletik ihres Landes zu erkennen“, sagte Rune Andersen, Vorsitzender der IAAF-Taskforce zur Überwachung der Reformen in Russland, „viele Athleten und Trainer schienen zudem die Anti-Doping-Regeln zu ignorieren.“
Russlands Präsident Wladimir Putin kritisierte den Olympia-Ausschluss. „Natürlich ist das unfair“, sagte Putin am Freitagabend in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur und anderen Nachrichtenagenturen. Er verwies darauf, dass individuelle Schuld bewiesen werden müsse. Es dürften keine Kollektivstrafen verhängt werden. Die Entscheidung des IAAF-Council stelle eine „Verletzung aller Rechtsgrundsätze“ dar. Zwei Stunden vor der Entscheidung hatte Putin eine Beteiligung des russischen Staates an Dopingvergehen von Sportlern bestritten. „Von staatlicher Seite haben wir gegen Doping im Sport gekämpft und werden das auch in Zukunft tun.“
Diskus-Olympiasieger Robert Hartung begrüßte den Olympia-Bann dagegen. „Das ist das richtige Signal für den Weltsport“, sagte er dem TV-Sender Sport1. Russlands Stabhochsprung-Heldin Jelena Issinbajewa will das Urteil nicht hinnehmen: „Das ist ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Ich werde für die Gerechtigkeit kämpfen.“
Allerdings öffnete das Council auch eine kleine Hintertür für nachweislich saubere Athleten: Der Olympia-Start einzelner Sportler unter neutraler Flagge sei möglich, sagte Andersen, sprach aber nur von einem „Spalt in der Tür“. Der Norweger betonte, dass vor allem der Whistleblowerin Julia Stepanowa - sie hatte mit ihrem Mann den Doping-Skandal in ihrer russischen Heimat enthüllt - damit ein Olympia-Start ermöglicht werden soll. „Ich kann nicht sagen, ob sie starten darf, aber wir favorisieren es“, betonte Andersen.
Auch darüber dürften IAAF und das Internationale Olympische Komitee am kommenden Dienstag auf dem IOC-Summit in Lausanne reden. Das IOC kommentierte das Olympia-Aus zunächst nur wortkarg: „Zur Kenntnis genommen.“
Die Nationale Anti-Doping-Agentur NADA fordert jedoch, dass es für solche Einzelstarter nachvollziehbare Auswahlkriterien gibt. „Klare Vorgaben müssen erarbeitet und eingehalten werden, damit die Chancengleichheit und das Fair Play gewährleistet ist“, sagte die NADA-Vorstandsvorsitzende Andrea Gotzmann.
„Wo systematisch betrogen wird, muss wohl auch systematisch sanktioniert werden“, kommentierte Alfons Hörmann, Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes den IAAF-Spruch. „Ab einem gewissen Punkt, ab einer gewissen Häufigkeit und Schwere der Verstöße müssen unserer Auffassung nach auch in Zukunft die Rechte des Einzelnen eines Teams zurücktreten, um allen Athleten anderer Länder die Chance auf einen fairen Wettkampf zu erhalten.“
IAAF-Präsident Sebastian Coe sprach nach der einstimmigen Entscheidung der 24 anwesenden Council-Mitglieder von einer „machtvollen Botschaft“, allerdings auch von „einem traurigen Tag für unseren Sport. Das war keine einfache Entscheidung“, erklärte der Brite. „Unser Ziel ist es nicht, so viele Länder wie möglich an den Start zu bringen, sondern so viele saubere Athleten wie möglich.“
Eine „Kollektivstrafe“ wäre nach Meinung von Andersen zwar „die leichtere Lösung“ gewesen. „Aber wir wollen den Athleten, die außerhalb des Dopingsystems stehen, die Möglichkeit für einen Olympia-Start geben - unter neutraler Flagge.“
Das russische Sportministerium erklärte, die Entscheidung habe zu „einer beispiellosen Situation“ geführt. „Die Träume vieler unserer Sportler sind wegen des falschen Verhaltens einzelner Athleten, Trainer und Experten zerstört worden.“ Der Ausschluss der WFLA sei eine zu erwartende Entscheidung gewesen. „Es war zu vermuten. Wir werden darauf reagieren“, kündigte Sportminister Witali Mutko an.
Der Ausschluss eines Verbandes ist laut Regel 45 im Ethik-Code des Weltverbandes bei gravierenden Verstößen gegen Anti-Doping-Regularien zulässig. Die Welt-Anti-Doping-Agentur WADA hatte am 9. November 2015 einen 323-seitigen Bericht vorgelegt, der ein Schreckensbild der Doping-Praktiken in der russischen Leichtathletik zeichnet.
„Ich halte die Entscheidung der IAAF für nachvollziehbar, konsequent und im Interesse aller Sportler, die einem gut funktionierenden Anti-Doping-Kontrollsystem unterliegen“, sagte Clemens Prokop, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes.
Noch nie in der olympischen Geschichte ist eine größere Zahl von Sportlern eines Landes ausgeschlossen worden. Bei den London-Spielen waren von den insgesamt 440 russischen Sportlern ein Viertel Leichtathleten. Russland war 2012 mit 18 Medaillen nach den USA die zweitstärkste Leichtathletik-Nation.