Omas Anordnung: Harting durfte Trikot nicht zerreißen
Zürich (dpa) - Robert Harting hörte auf seine Oma Renate. Nach der erfolgreichen Titelverteidigung bei der Leichtathletik-EM in Zürich verzichtete der ansonsten alles andere als folgsame Berliner auf das Zerreißen seines Nationaltrikots.
„Ihr gefällt es nicht“, sagte der Diskus-Olympiasieger nach seinem Sieg mit 66,07 Metern. „Oma ist eine andere Generation. Da kommt es nicht gut an, wenn man ein Lump ist und das Trikot zerreißt.“ Stattdessen zog er das Shirt aus, legte es auf den Boden und kuschelte telegen damit.
Während er den Lohn von der Großmutter - acht Thüringer Bratwürste und zwei Schachteln mit Karamell-Naschwerk - längst verdaut hatte, lag ihm das stürmische und gefährliche EM-Finale noch arg im Magen. „Das waren die schlimmsten Würfe meines Lebens und der schwierigste Titel, den ich gewonnen habe“, sagte ein physisch und mental ausgelaugter Harting. „Wenn ich kategorisieren soll: Dieser Titel kommt nicht mit weitem Abstand nach dem Olympiasieg, weil es eine ganz große Kopfleistung für mich war.“
Vorsicht Glatteis! So ein Warnschild hätte man vor dem Diskus-Ring an dem regnerischen, windigen und chaotischen Finalabend aufstellen müssen. Die Endkampf-Tortur begann bereits im Hotel. Die Abfahrt zum Stadion verzögerte sich wegen des stürmischen Wetters und Zeitplanänderungen immer wieder. „Sechs- oder siebenmal musste man sich warm machen und kam total aus dem Rhythmus“, schilderte Harting. Als er endlich zum ersten Aufwärmwurf im Ring stand, stürzte er - mit fast fatalen Folgen. „Ich bin hingefallen, habe mich abgefangen und mir den Handknöchel in der Hand verstaucht“, sagte er zu dem Malheur.
Ursache für den Unfall und die im Medaillenkampf schwachen Würfen aller Finalisten war ein neuer, rutschiger Tartan-Belag im Ring. „Es war sauglatt und schmierig. Das war wie Schlittschuhlaufen“, klagte der 29-Jährige besonders über den mangelnden Halt am Ende der Wurfphase. „Es war wie im Winter, wenn man den Berg runterfährt und hat keine Bremse am Schlitten. Diese Bremse ist mein linkes Bein.“
Deshalb war der 2,01 Meter Herkules nach diesem „Ringelpietz mit Anfassen“ heilfroh, allen Widrigkeiten zum trotz EM-Gold gewonnen zu haben. „Mit 66 Metern bin ich happy, auch wenn es etwas billig riecht“, meinte Harting. „Wenn ich 66 Meter unter normalen Bedingungen geworfen hätte, wäre ich sicher enttäuscht gewesen, aber so überhaupt nicht.“ Silbermedaillengewinner Gerd Kanter aus estland (64,75 Meter) und der Dritte Robert Urbanek aus Polen (64,75) kamen mit den Bedingungen noch deutlich schlechter zurecht.
Für Harting ist es nach WM-Triumphen 2009, 2011 und 2013 sowie dem Olympiasieg und dem EM-Titel 2012 bereits der sechste große Sieg seiner Karriere - und der fünfte in Serie. „Ich hoffe, es geht lange so weiter“, sagte der Ausnahmeathlet.
Im Übergangsjahr 2014 hat er damit die Basis gelegt für seine nächsten Gold-Projekte: Die WM 2015 in Peking und die Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro. Dafür hat er einen „richtigen Kassensturz“ gemacht: Er hat mit seinem neuen Coach Torsten Schmidt neue Trainingsprogramme entwickelt und sein Studium - er muss am 16. September seine Bachelor-Arbeit in Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation abgeben - und die von ihm mitinitiierte Deutsche Sportlotterie vorangetrieben.
Jetzt will Harting seine Aktivitäten außerhalb des Sports aber zurückfahren, um noch stärker zu werden. „Ich habe vor der vor der WM 2013 in Moskau vielleicht sechs Wochen auf höchsten Niveau trainiert, vor der EM in Zürich waren es drei oder vier Wochen“, sagte Harting selbstkritisch. „Nun freue ich mich darauf, den Sport wieder voranzutreiben.“ Schließlich könne es nicht sein, dass er im besten Diskus-Alter weniger weit werfen würde, „als mit 24 in Berlin beim WM-Sieg 2009“. Vor fünf Jahren gewann er mit 69,43 Meter.
Offen lässt Harting hingegen, ob er seine Karriere bis zu den Europameisterschaften 2018 in seiner Heimatstadt Berlin fortsetzen wird. „Es wäre toll, aber es ist unmöglich, es jetzt schon zu sagen“, erklärte er.