Formel 1 und Armut: So extrem wie nirgendwo sonst

Greater Noida (dpa) - Wenige Meter entfernt vom überdimensionierten Plakat mit Michael Schumacher haust eine vierköpfige indische Familie im Dreck. Ein Geruch-Mischmasch aus faulen Eiern, Fäkalien und Rauch liegt in der Luft.

Es ist am frühen Morgen bereits stickig, der Smog über der Industriestadt Greater Noida vor den Toren des Molochs Neu Delhi lässt kaum Sonnenstrahlen durch. Der Staub legt sich schleichend auf die Bronchien. So wie diese vier Inder leben sie zu Dutzenden in provisorischen Baracken und Verschlägen direkt neben den Hotels für den Formel-1-Zirkus. Der Grad des „Wohlstandes“ bemisst sich darin, ob unter Decken oder Wellblechdächern geschlafen werden kann.

„Wenn man mal aus dem Hotel geht und hundert Meter nach links schaut, sieht man das wahre Indien“, sagt Timo Glock nachdenklich. Den Marussia-Virgin-Piloten bedrücken die Verhältnisse. „So extrem wie hier habe ich es noch nirgendwo gesehen.“ Und Schumachers Mercedes-Kollege Nico Rosberg war nach seinen ersten Eindrücken bei dem auch für ihn ersten Indien-Besuch verwirrt: „Ich habe es mir ganz anders vorgestellt. Es ist erschreckend, so etwas zu sehen.“

Es ist der Gegensatz zur Glitzerwelt Formel 1, die Fahrer, Teamoffizielle und Journalisten bei ihrer Indien-Premiere zu Gesicht bekommen, wenn sie rund 50 Kilometer von Neu Delhi entfernt auf die Straße gehen. Hier am Fuße eines Schumacher-Werbeplakats für das neue Motorsportevent im einstigen Entwicklungsland ist der Formel-1-Glamour noch weiter weg als der Rekordchampion derzeit von seinem achten Weltmeistertitel. Allem Aufschwung zum Trotz: Die Armut ist noch immer groß auf dem Subkontinent. Das Jahreseinkommen liegt im Schnitt bei nicht einmal 1000 Euro. Im Jahr.

In den Favelas Sao Paulos war es mal ähnlich, doch dort gehen die Behörden mit Blick auf Fußball-WM 2014 und Olympia 2016 seit einiger Zeit rigoros gegen Armut und Kriminalität vor. „Vielleicht wäre es besser gewesen, erst in fünf Jahren hierherzukommen“, sagt Glock.

Auch den Wersauer erschüttern Szenen, wie sich Dutzende Menschen inmitten der Luxushotels für die Fahrer in der ansonsten riesigen Baustelle an einer Wasserquelle drängen. Am frühen Morgen kommen sie aus ihren Verschlägen inmitten des Bauschutts gekrochen und bahnen sich über Steine, Schmutz und Getier ihren Weg. Das etwa vier Quadratmeter große Betonbecken ist das einzig intakte Gebilde weit und breit. Es dient gleichzeitig als Waschmöglichkeit, Quelle für Kochwasser und ist Sammelstelle zum Zähneputzen.

Dennoch: Superstar und Doppelweltmeister Sebastian Vettel ist auch tief beeindruckt. „Die Leute haben nichts und die Kinder springen doch fröhlich über die Straße. Das gibt dir teilweise eine andere Sicht auf die Dinge“, gibt Vettel zu bedenken. „Die Umstände, in denen die Menschen leben, kann man sich bei uns schwer vorstellen.“ Vettel findet es gut und richtig, dass die Formel 1 in Indien fährt.

Auch Mercedes-Motorsportchef Norbert Haug widersprach Glock. Schon im Vorfeld des Rennens verteidigte der Schwabe die Expansion an den nicht gerade als motorsport-verrückt geltenden Ort. „Jetzt, wo ich das sehe, hat es noch mehr Bedeutung“, sagte Haug nach seiner Ankunft. „Die Formel 1 wird nicht die Probleme Indiens lösen, aber Zeichen setzen.“ Was zunächst vor allem aus wirtschaftlicher Sicht notwendig erschien, bekommt plötzlich auch eine soziale Dimension.

„Die von der Formel 1 begleitete wirtschaftliche Weiterentwicklung Indiens wird helfen, Arbeitsplätze zu schaffen und Armut zu lindern“, sagte Schumachers und Rosbergs Vorgesetzter sehr optimistisch. Auch Rosberg meinte mit Blick auf den für 290 Millionen Euro erbauten Buddh International Circuit: „Wie viele Menschen hier dran verdient haben, ist doch toll.“

Ob es tatsächlich so ist, bleibt dahin gestellt. Indiens Wirtschaftsboom basiert unter anderem darauf, dass Arbeitskraft so billig wie kaum an einem anderen Ort weltweit ist. Während der Bauarbeiten nutzten zahlreiche Arbeiter die neu entstandenen Team-Garagen als Wohnung für sich und ihre Familien, um zumindest für einige Zeit ein (Beton-)Dach über dem Kopf zu haben.