Der Mann, der Schmerzen besiegt
Mit dem Sieg im Zeitfahren hat Tony Martin sein größtes Ziel erreicht. Die Sturzverletzungen vom Tour-Auftakt machen die Fahrt zur großen Qual.
Mont Saint-Michel. Tony Martin kann doch noch lächeln. Den Glauben daran konnte man in den vergangenen Tagen leicht verlieren. Wer dem deutschen Radprofi am Rande der 100. Auflage der Tour de France in die Augen blickte, schaute in eine Mischung aus wilder Entschlossenheit und vor allem großen Qualen.
Ein ganz anderes Bild gab es am Mittwoch bei der Siegerehrung des Einzelzeitfahrens. Martin strahlte Erleichterung und Glückseligkeit aus. Endlich. Der Deutsche hat sein großes Ziel erreicht.
Als Zeitfahrweltmeister wies er die Konkurrenz in seiner Königsdisziplin in die Schranken. Der Cottbuser dominierte den 33 Kilometer langen Kampf gegen die Uhr und holte sich mit zwölf Sekunden Vorsprung vor dem Gesamtführenden Christopher Froome überlegen den Tagessieg.
„Nachdem wir den Sieg im Teamzeitfahren so knapp verpasst hatten, war der Gewinn im Einzel mein großes Ziel. Ich bin sehr glücklich, dass es geklappt hat“, sagte der 28-Jährige. Für den leidgeprüften Deutschen war der Sieg im Einzel auch deshalb eine große Genugtuung. Auch weil er von seinem schweren Sturz auf der ersten Tour-Etappe noch immer stark gezeichnet ist.
Viele andere Rennfahrer hätten angesichts der schweren Verletzungen wohl schon längst aufgegeben. Martin zeigt sich aber unbeirrt — trotz tiefer Risswunden am Rücken und insbesondere am linken Ellenbogen. Dazu kommen zahlreiche Abschürfungen. Der Sportdirektor des Teams scherzte, der Deutsche sehe aus, als habe er zu lange auf dem Grill gelegen.
Doch zum Spaßen ist Martin selbst nicht zu Mute. Schließlich ist es nicht sein erster Sturz beim wichtigsten Radrennen der Welt. Im vergangenen Jahr quälte er sich nach einem Knochenbruch in der Mittelhand eine Woche lang durch Frankreich, ehe er aufgab. „Ich verfluche die Tour nicht. Auch das gehört leider zu unserem Sport dazu“, sagt Martin, der kein Mitleid für seine Person erwartet. „Ich war wohl ganz einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.“
Es drängt sich der Eindruck auf, dass Martin eine masochistische Ader haben muss. Fast unbeeindruckt nimmt er die Schmerzen hin. Es scheint, als würden sie ihn nur noch stärker machen. In den ersten Tagen nach seinem Sturz konnte er kaum schlafen. Liegen auf dem Rücken war unmöglich. Abend für Abend musste ihm ein Betreuer aus seinem Rennanzug helfen. Die Wunde am Ellenbogen wird bis Paris nicht mehr zuwachsen.
„Alles, was jetzt noch zu spüren ist, fühlt sich an wie nach einem normalen Sturz. Das sind wir als Radsportler gewöhnt“, sagt Martin, unbeeindruckt wie eh und je. Doch insgeheim weiß auch er, dass er besonders leidensfähig ist. Auch deshalb hat der Sieg im Zeitfahren eine besondere Bedeutung. Es ist Martins Paradedisziplin. Fraglich ist nur, wie lange noch. Unter der Woche gab er bekannt, dass er sich umorientieren möchte. „Ich würde es gerne noch einmal versuchen, auf Gesamtwertung zu fahren“, erklärte Martin. „Ich werde dann wohl abnehmen müssen. Etwa vier Kilo müssten weg.“
Denn der Toursieg wird vorrangig am Berg entschieden. Dort haben die „Hungerhaken“ wie Tourfavorit Christopher Froome die besten Aussichten. Martin wird sich also wieder quälen müssen, um sein Ziel zu erreichen — dann in Form einer harten Diät. Dass die Qualitäten eines Klassementfahrers in ihm stecken, zeigte er bei seinem Tour-Debüt 2009.
Dort trug er lange das Trikot als bester Nachwuchsfahrer, überzeugte auch in den Bergen. Allen Dopingvorwürfen trat und tritt er rigoros entgegen. Gemeinsam mit den Deutschen Marcel Kittel und John Degenkolb hat er sich für lebenslage Sperren gegen Dopingsünder ausgesprochen. Martin fordert zudem strafrechtliche Konsequenzen für Doper.