Deutsche Fahrer nur Olympia-Außenseiter?
Paris (dpa) - Deutschlands Straßenradprofis gehörten noch vor Wochen zu den großen Gold-Favoriten in London. Bei der Tour de France fuhren dann aber die Briten auf und davon.
Tony Martin hat den Triumph von Bradley Wiggins aus der Ferne verfolgt, und auch André Greipel war beim Sieg von Mark Cavendish ziemlich weit weg: Nach dem Schlusswochenende der Tour de France sind Deutschlands Straßenradprofis endgültig nicht mehr Top-Anwärter auf Gold bei den Olympischen Spielen in wenigen Tagen. Vor allem für Sprinthoffnung Greipel gilt nun, das verpatzte Finish von den Champs-Élysées schnellstmöglich zu vergessen. Chancenlos war der gebürtige Rostocker am Sonntag als Achter hinter dem erneut pfeilschnellen Rivalen über die Ziellinie gerollt. „Das wird ein anderes Rennen“, meinte Greipel zum Showdown am Samstag in London.
In der Tat ist der Olympia-Kurs nicht mit der letzten Etappe der Tour zu vergleichen, weil er mehr als doppelt so lang und wesentlich schwerer ist. Hinzu kommt der schwierige Boxhill-Anstieg, der nicht weniger als neunmal zu bewältigen ist. „Der Kurs liegt mir“, hatte Greipel noch im Frühjahr nach der ersten Besichtigung gesagt und vermutlich schon gehofft, der Parcours mit Start und Ziel am Buckingham Palast könnte für Cavendish zu hügelig und schwer sein.
Allerdings ist der Sprinter von der Isle of Man pünktlich zu seinem einmaligen Heimrennen topfit und so schlank wie nie. Sollte es zum Massensprint kommen, führt kaum ein Weg an ihm vorbei - zumal Cavendish illustre Helfer an seiner Seite weiß. „Wenn ein Mann wie Wiggins im Sprintzug vorne fährt, ist es schwer vorbeizukommen“, erklärte Marcel Sieberg, der mit Greipels Team Lotto-Belisol am Sonntag in Paris einige taktische Fehler gemacht hatte und auch deshalb von der englischen Armada klar bezwungen worden war.
Zu allem Überfluss dürfte es die deutsche Auswahl nicht nur mit Briten zu tun bekommen. Als Cavendishs Team- und Zimmerkollege, der Österreicher Bernhard Eisel, von der Nachrichtenagentur dpa gefragt wurde, ob er seinem besten Kumpel trotz unterschiedlicher Trikots auch bei Olympia etwas unter die Arme greifen wolle, antwortete er mit ganz breitem Grinsen: „Das ist strengstens verboten...“
Das Zünglein an der Waage könnte Tony Martin sein. Der gebürtige Cottbuser laboriert aber an den Folgen seines Kahnbeinbruchs während der Tour, die er nach gut einer Woche vorzeitig verließ. „Bei einer so kleinen Mannschaftsstärke ist Tony jemand, der mithelfen kann, das Rennen zu kontrollieren“, sagte Nationalmannschaftsfahrer Sieberg der dpa. „Ich hoffe, es geht ihm besser und er kann die Hand unmittelbar vor seinem wichtigen Zeitfahren voll einsetzen.“
Noch vor Wochen galt der Weltmeister als erster Kandidat auf Gold im Kampf gegen die Uhr. Durch seine Verletzung und die bärenstarken Auftritte von Wiggins bei den Tour-Zeitfahrsiegen ist die Ausgangslage eine völlig andere. Der Olympiasieg scheint unrealistisch, zumal auch Titelverteidiger Fabian Cancellara nach seinem frühzeitigen Tour-Ausstieg ausgeruht auf die Insel reist.
In London spielen die Namen Greipel, Martin oder Cancellara seit Wochen nur noch kleine Nebenrollen - die großen Versprechungen heißen Cavendish und Wiggins. Für den „König von Frankreich“ („The Independent“) begann schon am Abend nach seiner Triumphfahrt über den Prachtboulevard Champs-Élysées die Vorbereitung auf Olympia.
Sein Sky-Mastermind Dave Brailsford, in Großbritannien auch allmächtiger Chef der Auswahlteams, verkündete bereits auf dem Weg zur Tour-Siegerehrung: „Ich kann London kaum erwarten.“ Diese Warnung dürften auch die deutschen Radprofis vernommen haben.