Martin kann nach dem Tour-Drama wieder lachen
Livarot (dpa) - Am Tag nach seinem Malheur konnte Tony Martin schon wieder lachen. „Habe immer noch Spaß an der Tour“, twitterte der dreimalige Zeitfahr-Weltmeister vom Krankenbett aus und schickte ein Foto, auf dem er mit bandagiertem Arm zu sehen ist.
Im Hintergrund lief - natürlich - die Live-Übertragung von der Tour de France. Am Ende durfte er sich über den Etappensieg seines britischen Teamkollegen Mark Cavendish freuen.
24 Stunden zuvor hatte Martin noch selbst für ein großes Drama gesorgt, als er auf der Etappe nach Le Havre auf dem harten Asphalt landete und sich das Schlüsselbein brach. Dann ging alles ganz schnell: Mit dem gemieteten Jet ab nach Hamburg, Operation um 6.00 Uhr, „zerbröseltes Schlüsselbein“ geflickt und die Weltmeisterschaften in neun Wochen in Richmond schon wieder im Blick. Nach dem Tag der großen Emotionen stand in der Martin-Tragödie wieder professionelle Nüchternheit im Mittelpunkt. Der Martin-Arzt Helge Riepenhof erklärte am Freitag die OP für geglückt.
„Wenn er keine Infektion bekommt, kann er nach einer gewissen Beobachtungszeit im Krankenhaus in etwa einer Woche wieder auf der Rolle trainieren und in rund sechs Wochen wieder Rennen fahren“, sagte Riepenhof. „Ich werde in der nächsten Woche wohl wieder auf denm Rad sitzen“, sagte Martin der ARD.
Derweil rollt die Tour auch ohne den Träger des Gelben Trikots weiter, aus Respekt vor Martin verzichtete Chris Froome bei der 7. Etappe auf das Maillot Jaune. Elf Stunden zuvor hatte sich Martin nach dem vermutlich selbst verursachten Sturz knapp 1000 Meter vor der Ziellinie in Le Havre mit rund 30 Journalisten in einen engen, stickigen Raum des Hotels „Lion d’Or“ in Pont-L'Eveque gequetscht. Damit es nicht ganz so wehtat, hatten sie vor seinem Tisch das Gelbe Trikot als großes Trostpflaster drapiert.
„Es ist supertraurig, das Rennen so zu beenden. Ich wollte das Gelbe Trikot noch einige Tage tragen. So viel Extreme in so kurzer Zeit: Das war eine Achterbahn der Gefühle. Solche Geschichten schreibt nur die Tour“, sagte ein kreidebleicher Tony Martin, dessen lädiertes linkes Schlüsselbein dick bandagiert war. Kurz nach der Abrechnung der so ereignisreichen ersten sechs Tour-Tage („alles in allem ziehe ich ein positives Resümee“) wurde er zum Flughafen gefahren.
In der Hansestadt wartete schon ein medizinisches Empfangskommando und brachte den verletzten Sportler ins Berufsgenossenschaftliche Unfallkrankenhaus. Der Spezialist Philipp Inden operierte rund zwei Stunden. „Das Schlüsselbein war ganz schön zerbröselt. Eine spezielle Titanplatte, die nach etwa sechs Wochen wieder entfernt wird, fixiert den Bruch. Um eine Infektion zu verhindern, bekommt Tony jetzt intravenös Antibiotika“, erklärte Riepenhof, der in Pont-L’Eveque von seinem Arbeitgeber in Hamburg immer über den aktuellsten Stand informiert wurde.
„Normalerweise spricht die Literatur von fünf Prozent Infektionsgefahr. Durch den Stress und die Belastungen der Tour könnte Tonys Immunsystem aber etwas angegriffen sein, so dass die Rate in seinem Fall etwas höher liegen könnte“, meinte der Teamarzt.
Martins hatte sich am Abend nach dem Crash nicht mehr an den Hergang erinnern können. „Ich weiß nicht, ob ich Schuld war“, sagte der 30-Jährige, den drei Teamkollegen, darunter Weltmeister Michal Kwiatkowski, über die Ziellinie geschoben hatten. Zu diesem Zeitpunkt hatte Martin noch auf einen glimpflichen Ausgang gehofft. Die erste Diagnose in der Röntgen-Station der Tour traf ihn dann hart.
„Mit einem offenen Bruch - ein Teil des Schlüsselbeins hatte die Haut perforiert - kann man nicht weiterfahren“, hatte Riepenhof erklärt. Martin musste sich trösten: Nach dem holprigen Tourstart, bei dem er in den ersten drei Tagen den Sprung an die Spitze um fünf, drei und eine Sekunde verpasst hatte, glückte ihm zu guter Letzt der Sprung an die Spitze. „Ich bin froh, dass ich mir meinen Traum von Gelb mit dem Sieg auf einer ganz besonderen Etappe erfüllen konnte“.
Die Frankreich-Rundfahrt war für Martin, dem wie Fabian Cancellara zum Wochenbeginn Gelb kein Glück brachte, fast in jedem Jahr seit 2009 eine Tour der Leiden: Im Jahr nach seinem Debüt machte ihm beim Auftaktzeitfahren in Rotterdam Nieselregen die Fahrt ins Gelbe Trikot zunichte. Auf der Kopfsteinpflaster-Etappe kam er zu Fall, konnte die Reise mit Prellungen und Schürfwunden aber fortsetzen.
Im Frühjahr 2012 erlitt er bei einem Trainingssturz einen Jochbeinbruch, einen Teilbruch der Augenhöhle, und einen Riss im Schulterblatt. Er kämpfte sich zurück. Doch bei der Tour endeten die Gelb-Träume, als im Prolog eine Glasscherbe den Reifen zerschnitt. Es kam noch schlimmer: Martin brach sich am zweiten Tag das Kahnbein, biss sich aber mehrere Tage durch - alles mit Blick auf Olympia. In London holte er Silber.
Als der dreimalige Zeitfahr-Weltmeister der Tour „Au Revoir“ sagte - die „L’Équipe titelte: „Die Tour - immer so grausam“ - verkündete er trocken: „Mein nächstes Ziel ist die WM“.