Quintana nach Freitag weiter im Aufwind
La Toussuire (dpa) - In der Schule war Mathematik das Lieblingsfach von Nairo Quintana. Und so kann sich der kolumbianische Kletterer aus den Anden seine verbliebene Chancen auf den Gesamtsieg bei der 102. Tour de France leicht ausrechnen.
Im Bereich der Unmöglichkeit sieht der 59 Kilogramm leichte Bergfloh die Möglichkeit nicht, den 2:38 Minuten-Rückstand auf den erstmals schwächelnden Spitzenreiter Christopher Froome noch aufzuholen. „Bis zum Ziel in L'Alpe d'Huez werde ich kämpfen. Ich werde meinen Traum nicht aufgeben. Der zweite Platz wäre kein Desaster, aber ich will Gelb“, sagte Quintana, der in La Toussuire auf Platz zwei gefahren war und dem „wackelnden“ Froome eine halbe Minute abnahm.
Quintana ist der einzige Kontrahent, den Froome noch fürchten muss. Vorjahressieger Vincenzo Nibali präsentierte sich bis zum Etappensieg am Freitag außer Form, Alberto Contador verspielte mit einem Sturz am Mittwoch wohl die letzten Chancen auf einen dritten Sieg. Der Amerikaner Tejay van Garderen musste krankheitsbedingt aufgeben. Ein Moment der Schwäche könne viel Zeit kosten, sagte Froome. Er weiß um Quintanas Gefährlichkeit.
Schließlich ist der 25-jährige Kolumbianer im Hochgebirge zu Hause. In seiner Heimat Combita, 150 Kilometer nördlich von der Hauptstadt Bogota lebt und trainiert Quintana auf rund 2800 Metern Höhe und erreicht somit auf natürliche Weise einen erhöhten Hämatokritwert. Dass er vor der Tour mehr als 40 Tage quasi verschollen von der europäischen Radsport-Landkarte in seiner Heimat weilte, öffnete die Tür zu Dopingverdächtigungen, die auch Nibali befeuerte.
Dinge, die den sonst so ruhigen Quintana verärgern. „Kolumbien ist kein Land, das verloren im Dschungel liegt. Wir haben dort auch Dopingkontrollen. Ich bin fünfmal getestet worden“, sagt der Kletterer. Als Radsportler müsse er schon so viele Entbehrungen in Kauf nehmen. Mit seinem Trainingsquartier schlage er zwei Fliegen mit einer Klappe. „Ich kann bei idealen Bedingungen in meiner Heimat trainieren, und ich bin bei den Leuten, die ich liebe.“
Quintana sieht sich oft in eine Rolle gedrängt, die der Wahrheit nicht entspreche. Auch dass er in purer Armut aufgewachsen sei, bezeichnet er als Märchen. „Wir haben schön gelebt und waren glücklich“, erzählt Quintana, dessen Eltern einen kleinen Obst- und Gemüseladen führten. In seiner Jugend half der Movistar-Kapitän seinem Vater häufig bei der Ernte.
Seine ersten Pedalumdrehungen machte er auf einem klobigen 30-Dollar-Rad, mit dem er täglich die 16 Kilometer zur Schule und zurück fuhr. Das Haus seiner Eltern lag auf dem Gipfel eines acht Prozent steilen Anstiegs. Solche Rampen meistert Quintana, der als Kind eine seltene Krankheit überlebte, heute mit Leichtigkeit. Und so dürfte dem im Vergleich zu Froome fünf Jahre jüngeren Südamerikaner die Zukunft im Radsport gehören.
Dabei hat die Zukunft für ihn eigentlich schon begonnen. 2013 war Quintanas Stern bei der Tour schon aufgegangen, als er Gesamtzweiter wurde sowie die Nachwuchs- und Bergwertung gewann. 2014 verzichtete er auf einen Tour-Start und gewann stattdessen den Giro d'Italia. Dort wendete er auf nur einer Etappe das Blatt, als er seinem Landsmann Rigoberto Uran auf dem Weg nach Val Mortello mehr als vier Minuten abnahm.
So einen Coup bräuchte Quintana noch einmal. „Er kann es noch schaffen“, sagt auch sein zehn Jahre älterer Teamkollege Alejandro Valverde. Dann würde Quintana, dessen jüngerer Bruder Dayer ebenfalls im Movistar-Team fährt und in diesem Jahr beim Giro die erste große Rundfahrt bestritt, zum ersten lateinamerikanischen Toursieger aufsteigen. Welchen Wert dies hätte, muss sich Quintana nicht ausrechnen.