Rätselhaftes deutsches Herren-Tennis
New York (dpa) - Boris Becker und Michael Stich Zeitzeugen einer glorreichen Vergangenheit, Nicolas Kiefer und Rainer Schüttler längst abgetreten, Tommy Haas und Florian Mayer seit Monaten verletzt: Dem deutschen Herren-Tennis fehlen die (Sieger-)Typen.
Bei den US Open hat nur Philipp Kohlschreiber das Achtelfinale erreicht - der Profi, den Bundestrainer Carsten Arriens aus dem Davis-Cup-Team geworfen hat. Was ist los bei den Herren? Eine Bestandsaufnahme:
PHILIPP KOHLSCHREIBER (Augsburg/30 Jahre/ATP-Ranking: 25): Aktuell der beste deutsche Profi, zum dritten Mal nacheinander bei den US Open im Achtelfinale. Wegen diverser Unstimmigkeiten mit Bundestrainer Carsten Arriens aus dem Davis-Cup-Team geworfen worden. Der einzige Spieler mit Konstanz, trainierte zuletzt mit Roger Federer und Novak Djokovic und holte sich Tipps bei Boris Becker.
TOMMY HAAS (Bradenton/Florida/36/35): Im Alter von 36 Jahren musste der gebürtige Hamburger zum vierten Mal an der Schulter operiert werden. Fällt für den Rest der Saison aus, will aber (noch) nicht zurücktreten. Die ehemalige Nummer zwei der Welt wird wohl im kommenden Jahr seine Abschiedstournee absolvieren. Im Davis Cup wird man den viermaligen Grand-Slam-Halbfinalisten kaum noch sehen.
BENJAMIN BECKER (Mettlach/33/59): Der 33 Jahre alte Saarländer spielt eine ordentliche Saison. Halbfinale in Atlanta, Endspiel in s-Hertogenbosch. Stünde für den Davis Cup zur Verfügung, ist aber (auch wegen seines Alters) nur eine Alternative, wenn sich andere verletzen. Beendete 2006 bei den US Open die Karriere von Andre Agassi. Seitdem bei keinem Grand-Slam-Turnier im Achtelfinale.
FLORIAN MAYER (Bayreuth/30/69): Hat seit März wegen einer Schambeinverletzung kein Spiel mehr bestritten. Will aber noch in diesem Jahr auf die Tour zurückkehren. Stand bei den Australian Open in diesem Jahr im Achtelfinale und zweimal im Viertelfinale von Wimbledon (2004 und 2012). Zuverlässiger und ruhiger Profi, vor seiner Pause mit wechselhaften Ergebnissen. Aber auch schon 30.
TOBIAS KAMKE (Lübeck/28/73): Zählte zum deutschen B-Team, das im Davis-Cup-Viertelfinale in Frankreich fast die Sensation geschafft hätte. Gewann als Nummer eins gegen Julien Benneteau. Danach im Mittelmaß verschwunden. Bei den US Open in Runde eins raus. Arbeitet mit Görges-Trainer Sascha Nensel. Hat im Juni ein zweitklassiges Challenger in Fürth gewonnen. Zeigt sein Potenzial zu selten.
JAN-LENNARD STRUFF (Warstein/24/77): Machte bei den US Open durch einen Fünfsatz-Sieg nach 0:2-Rückstand auf sich aufmerksam. Scheiterte in der zweiten Runde an John Isner. Gehörte auch zum Davis-Cup-Team in Frankreich, kam aber nicht zum Einsatz. Halbfinale beim ATP-Turnier in München. Sehr ruhiger Vertreter seiner Sportart mit guten Möglichkeiten, aber noch viel zu wechselhaften Leistungen.
DUSTIN BROWN (Winsen/Aller/29/97): Der Paradiesvogel unter den deutschen Profis. Der Mann mit den Dreadlocks spielt mal spektakulär wie 2013 in Wimbledon bei seinem Sieg gegen Lleyton Hewitt oder in diesem Jahr in Halle/Westfalen bei seinem Erfolg gegen Rafael Nadal. Insgesamt aber viel zu unkonstant. Noch nie von Arriens berufen worden, spielt in den Überlegungen des Teamchefs auch keine Rolle.
PETER GOJOWCZYK (München/25/124): Davis-Cup-Held für ein Wochenende mit seinem Sieg im Fünf-Satz-Thriller gegen Jo-Wilfried Tsonga. Sympathischer und selbstkritischer Zeitgenosse. In Halle im Viertelfinale. Plagte sich lange mit Fußverletzung (entzündetes Zehengelenk) herum. Bei den US Open trotz Niederlage starker Auftritt gegen Milos Raonic. Wenn er fit ist, einer der Vielversprechendsten.
ALEXANDER ZVEREV (Hamburg/17/157): Sorgte mit seinem Halbfinal-Einzug in Hamburg für Furore. Gilt als größtes deutsches Talent seit Becker und Stich. Holte in diesem Jahr bei den Australian Open seinen ersten Grand-Slam-Titel bei den Junioren und Platz eins der Jugend-Weltrangliste. Nach Hamburg aber zweimal in der ersten Runde, zweimal in der Quali raus (auch in New York). Braucht noch Zeit.
WEITERE NAMEN: Unter den ersten 300 der Tennis-Weltrangliste finden sich noch Kandidaten wie Andreas Beck (Stuttgart/115), Michael Berrer (Stuttgart/122), Julian Reister (Reinbek/123), Daniel Brands (Deggendorf/168), Tim Pütz (Frankfurt/Main/203) oder Matthias Bachinger (Dachau/235), die entweder nach Krankheit oder Verletzung um den Anschluss kämpfen, deren Karriere sich eher dem Ende zuneigt oder die bislang nur Helden für einen Tag waren.