Interview Warum erst jetzt, Herr Löw?

Joachim Löw hat mit seinen Personal-Entscheidungen für Irritationen gesorgt. Im Interview erklärt er, was er von der Kritik hält, spricht über die Torhüterfrage und den Weg zu einem besseren deutschen Spiel.

„Nach jedem Turnier habe ich Abstand gebraucht, um alles zu hinterfragen, natürlich auch mich selbst“: Bundestrainer Joachim Löw in nachdenklicher Pose bei der Pressekonferenz am Freitag in der DFB-Zentrale in Frankfurt.

Foto: dpa/Boris Roessler

Herr Löw, es gibt immer zwei Wahrheiten. Die Erste zum Ende der Nationalmannschaftskarriere des Münchner Trios haben wir aus München gehört. Jetzt können Sie Ihre Version erzählen. Haben Sie mit Gegenwind gerechnet?

Joachim Löw: Dass es Reaktionen und Diskussionen geben wird, habe ich erwartet, denn Mats, Thomas und Jerome sind drei verdiente, beliebte Nationalspieler, die Weltmeister geworden sind und eine lange Karriere in der Nationalmannschaft hatten. Sie sind ganz große Spieler, die für eine große Zeit der Nationalmannschaft stehen. Wir – und ich persönlich – verdanken ihnen sehr viel. Dass darüber sportlich diskutiert wird, ist doch klar, und da kann man immer unterschiedlicher Auffassung sein. Was ich in dieser Heftigkeit nicht erwartet habe, ist die Debatte um die Stilfrage. Wir sind doch genau deswegen nach München gefahren. Für mich war das Allerwichtigste – und das stand für mich über allem –, dass die Spieler eine für sie so gravierende Entscheidung von mir persönlich erfahren. Ich wollte der Erste sein, der ihnen diese Entscheidung persönlich mitteilt und begründet. Weil ich größten Respekt vor ihnen habe, ging es mir um das persönliche Treffen. So schwer uns das allen gefallen ist, auch mich hat das geschmerzt.

Irgendwie ist dann aber was schiefgelaufen.

Löw: Ich wollte vorher Spekulationen ausschließen. Das wäre in meinen Augen stil- und respektlos gewesen. Deswegen war es so kurzfristig angekündigt. Ich wollte das nicht telefonisch machen, das geht auch nicht privat, also gehe ich da hin, wo die Spieler sind, wo sie arbeiten, wo sie auf dem Platz stehen.

Also würden Sie alles genau so wieder angehen?

Löw: In meinem Kopf und meinem Herzen bin ich davon überzeugt, dass es richtig war, es so zu machen. Das gilt vor allem für die sportliche Entscheidung an sich. Dass die Entscheidung und das Überbringen dann schmerzt – auch mich –, das wusste ich. Aber als Trainer muss ich solche Entscheidungen treffen, das gehört dazu.

Es gibt aus München auch ein paar Irritationen über die Konsequenzen dieser Ausmusterung. Ist die endgültig?

Löw: Spieler fordern zu Recht immer Ehrlichkeit und die ehrliche Antwort ist: Ich plane die Qualifikation und ich plane die Europameisterschaft. Und beides plane ich ohne diese Spieler. Das habe ich ihnen auch mitgeteilt. Ich möchte deshalb auch keine Hoffnungen vortäuschen.

Abseits von den Stilfragen gab es in der Öffentlichkeit eher Zustimmung zu der sportlichen Entscheidung. Für uns stellt sich die Frage nach dem Zeitpunkt: Warum erst jetzt und nicht gleich nach der WM?

Löw: Weil bei der Nationalmannschaft alles in Prozessen und Phasen abläuft. Auch ein Trainer wacht nicht morgens auf und hat immer gleich Lösungen parat. Es gab nach der WM für mich gute Gründe, am Gerüst der Mannschaft festzuhalten. Ich hatte fest an eine Trotzreaktion der gesamten Mannschaft nach der WM geglaubt. Und ich war auch davon überzeugt, dass wir auch in der Nations League die Dinge wieder wesentlich besser machen werden. Das hat sich in den Ergebnissen und gezeigten Leistungen – wohlgemerkt der gesamten Mannschaft – dann anders entwickelt und dargestellt.

Aus der großen Mannschaft von Rio bleiben nur noch Manuel Neuer und Toni Kroos. Ist das auch Teil des Prozesses, dass diese beiden noch im Team bleiben?

Löw: Toni Kroos ist 29 und spielt seit Jahren international auf dem höchsten Niveau, auch wenn die ganze Mannschaft von Real jetzt mal eine schwächere Phase hat, und auch Manuel Neuer ist nach wie vor ein Weltklasse-Torhüter.

. . . um den es jetzt Diskussionen gibt, die Sie selbst in Madrid beim Clasico angestoßen haben, als Sie Marc André ter Stegen Nationalmannschafts-Einsätze versprochen haben.

Löw: Ich habe gesagt, dass ich glücklich bin, dass wir zwei Torhüter auf Top-Niveau haben. Marc André ter Stegen wird in diesem Jahr auch seine Einsätze bekommen, aber aktuell ist Manuel Kapitän und die Nummer eins. Manuel ist der Erste, der sich dem Leistungsprinzip unterwirft, das braucht man bei ihm doch gar nicht zu betonen. Glauben Sie mir: Um die Torhüter-Position machen wir uns im Moment die wenigsten Gedanken.

Das heißt, Manuel Neuer wird nächste Woche gegen Serbien und gegen Holland spielen?

Löw: Ob er gegen Serbien und Holland spielen wird, müssen wir sehen. Ich bleibe dabei, auch ter Stegen wird in der Qualifikation seine Möglichkeiten bekommen.

Deutschland steht auf Platz 16 der Weltrangliste. Sind wir wirklich so schlecht?

Löw: Die Weltrangliste ist nicht unbedingt mein Maßstab, aber aufgrund unserer Ergebnisse muss man das hinnehmen. Wir haben bei der Weltmeisterschaft eine Statistenrolle gespielt und sind aus der Nations League abgestiegen. Der Weltranglistenplatz ist die Quittung dafür. Ich sehe aber großes Potenzial bei uns, wieder nach oben zu kommen.

Wie gut sind wir denn?

Löw: Wir sind im Umbruch. Im Neuaufbau. Diese Phasen gehören dazu. Die Spiele in Paris gegen Frankreich oder in Gelsenkirchen gegen die Niederlande haben schon gezeigt, dass wir fußballerisch konkurrenzfähig sind. Wenn man die Ergebnisse als Maßstab nimmt, haben wir da noch nicht das eingefahren, was unserem Anspruch entspricht. Aber wir haben gezeigt, dass wir mit diesen Teams, die in der jüngeren Vergangenheit auch Tiefschläge haben wegstecken müssen, um wieder auf ein höheres Level zu kommen, auf Augenhöhe sein können.

Haben Sie nach der WM an Rücktritt gedacht?

Löw: Nach jedem Turnier habe ich Abstand gebraucht, um alles zu hinterfragen, natürlich auch mich selbst. Jedes Turnier ist eine Art Zäsur. Für den Verband, die Mannschaft, Spieler, aber auch den Trainer.

Nun beginnt die Qualifikation mit dem Spiel gegen die Niederlande in Amsterdam. Wie beurteilen Sie die Gegner?

Löw: Holland hat wieder eine sehr gute Mannschaft auf internationalem Niveau. Bei den anderen Mannschaften erwarte ich das, was wir kennen, Weißrussland, Nordirland, Estland werden eher defensiv gegen uns spielen. Mit viel Herz, Ehrgeiz und Motivation. Da kommt das auf uns zu, was wir in der WM-Qualifikation auch erlebt und bis zur WM auch immer gut gemacht haben. Wir haben gegen defensiv eingestellte Mannschaften immer spielerische Lösungen gefunden. Wir haben eine fantastische WM-Qualifikation mit Rekordwerten gespielt, immer Lücken gefunden, weil wir es gut gemacht haben, weil wir schnell mit der notwendigen Dynamik gespielt haben. Bei der WM war das nicht mehr so.

 Und deshalb setzen Sie jetzt auf jugendliche Dynamik?

Löw: Dynamik hat nicht ausschließlich mit Alter zu tun, aber generell ist das ein entscheidendes Thema für uns. Wir müssen wieder Dynamik und Tempo in unser Spiel bringen.

Vor der WM hatten Sie das Fehlen eines Mittelstürmers wie Miro Klose beklagt. An dieser Situation hat sich nichts geändert. Der fehlt Ihnen immer noch.

Löw: Ein Stürmertyp wie Miro Klose fehlt uns schon. Oliver Bierhoff und sein Team haben sich dazu schon viele Gedanken gemacht und denken auch an positionsbezogene Ausbildungen, das sind gute und richtige erste Schritte. Das ist eine generelle Aufgabe, auch der DFB-Akademie. Wir sind und bleiben eine Mannschaft, die Kombinationsfußball spielt und liebt. In dieser Frage bin ich zu keinen Kompromissen bereit. Es wird auch ohne Klose keinen anderen Spielstil geben. Wir müssen in Deutschland wieder Spieler ausbilden, die in die Zweikämpfe gehen, die Tempo machen, die 1:1 auflösen können. Ein Salah, ein Dembélé, ein Mbappé oder ein Sancho können auf engstem Raum jederzeit für Gefahr sorgen. Die können Lösungen finden in optimaler Zeit, das braucht man heute, weil das Spiel immer schneller und die Zeit immer knapper wird.

Oliver Bierhoff spricht von der Bolzplatz-Mentalität, die wieder gelehrt werden müsse.

Löw: Das stimmt, wir müssen die Kinder wieder spielen lassen, sie müssen Mut haben, ins 1:1 gehen. Das haben wir zuletzt in unserer Ausbildung ein bisschen vernachlässigt. Spiel den Ball, geh ins Dribbling, mach Fehler. Lange war es bei uns so: Spiel den Pass und mach keine Fehler. Wir sind schon in den Jugendspielen zu sehr auf Ergebnisse aus. B-Jugend, Dortmund gegen Schalke, da will jeder unbedingt gewinnen, und manchmal bleiben dann Spieler, die technisch sehr gut sind, draußen, weil körperlich starke Spieler bevorzugt werden. Die individuelle Förderung muss wieder über allem stehen. Da haben wir Defizite, ganz klar.