Analyse Amerikas schwierigste Wahl: Wie konnte es so weit kommen?
Washington (dpa) - Die USA - Supermacht, Heimat der meisten Nobelpreisträger und Sitz gigantischer Internet-Konzerne: Was ist im Wahljahr 2016 nur in dieses Riesenland gefahren? Am 8. November wird abgestimmt, wer nach Barack Obama ins Weiße Haus einziehen darf.
US-Präsidentin Hillary Clinton oder US-Präsident Donald Trump werden ein zutiefst gespaltenes Land regieren. Das politische System der USA ist in vielen Bereichen an seine Grenzen geraten. Was diesen Wahlkampf, der international für Kopfschütteln sorgt, möglich machte, offenbart auch die innere Schwäche des mächtigsten Landes der Welt.
DONALD TRUMP HAT EINEN PUNKT. MINDESTENS EINEN.
Als Kandidat ist der New Yorker Milliardär Donald Trump für viele indiskutabel, beängstigend, fast widerlich. Seine Gegner nennen den 70-Jährigen einen Lügner, einen Demagogen. Aber der seit weit mehr als einem Jahr tosende politische Lärm täuscht darüber hinweg, dass Trump inhaltlich einen Punkt hat - mindestens. Sehr viele Menschen in den USA haben echte Probleme mit den Folgen der Globalisierung, dazu gehören auch die Schwierigkeiten der Gesellschaft mit der illegalen Einwanderung - ein engerer Arbeitsmarkt, niedrige Löhne.
Viele der Herrschenden haben wenig Kontakt zu großen Gruppen der Bevölkerung, sie hören ihnen nicht mehr zu. Seit Jahrzehnten nicht. „Einer, der unsere Sprache spricht, einer, der uns zuhört“: Trump konnte ein riesiges Reservoir anzapfen. Lösungen mag er keine haben. Aber er stellt, so denken viele Amerikaner, zumindest die richtigen Fragen.
Es sind nicht nur dumpfe Rechte, die sich rote Baseballmützen aufsetzen und jubelnd zu Wahlkundgebungen Trumps laufen. Es sind vernachlässigte Kriegsveteranen und kleine Selbstständige, Arbeitslose, Alleinerziehende. „Ich bin 58 Jahre alt, und wir haben vor 23 Jahren ein Haus gekauft. Heute ist es weniger wert als damals“, sagt Julie Davies aus Carmel in Indiana. „Und wir verdienen auch noch weniger als damals.“
Es sind Leute wie sie, die Trump an den Lippen hängen, ihm seine steilen Thesen abkaufen: Er werde die Industrie zurückbringen, Amerika wieder großartig machen - weil sie sie kaufen wollen. Weil sie dem eingefahrenen Politikbetrieb zutiefst misstrauen, der sie über Jahrzehnte enttäuscht hat. Trump lügt? Vielleicht. Aber er ist für sie zumindest kein typischer Politiker. Und was mit all den Amtsträgern sei, die über Jahrzehnte kamen und gingen? Hätten die denn die Wahrheit gesagt? Davies, selbstständig für eine Art Partyservice tätig, lässt die Antwort offen.
Was die 58-Jährige denkt und tut, ist Beleg für die Schlussfolgerung, die der linke Intellektuelle Noam Chomsky vor dieser Wahl zieht: „Ein ganzes Segment der Gesellschaft wurde vom politischen System stehengelassen und abgekoppelt“, sagt er der dpa. „Jetzt sind diese Menschen verbittert und nachtragend. Drei Viertel der Gesellschaft sind in unserem politischen System nicht repräsentiert.“
40 Prozent der Leute sagen in einer Umfrage der „Washington Post“, sie hätten das Vertrauen in die Demokratie verloren. In derselben Studie stellt eine große Mehrheit der Trump-Anhänger klar: Wir glauben nicht mehr an eine funktionierende Regierung.
Bemerkenswert ist, dass nicht nur die Politik an Zuspruch verliert, sondern auch andere Institutionen - mit Ausnahme des Militärs. Die beiden Kandidaten für das mächtigste Amt der Welt sind historisch unbeliebt, sind mit ihren schlechten Umfragewerten aber nicht allein, sieht man sich die Jahresreihen des Gallup-Instituts an. Es bröckelt an verschiedenen Fronten in den USA: Schulen, Kirchen, Banken, TV. 67 Prozent der Menschen trauen sich auch gegenseitig nicht mehr.
Der Mangel an Vertrauen kommt nicht von ungefähr. Ungleichheit frisst sich durch fast alle Sektoren der Gesellschaft. Reich und Arm, Bildung, Gesundheit, Zugang zum Arbeitsmarkt, Aufstiegschancen - sehr vieles driftet auseinander in dem Land, das die Aufstiegsmöglichkeit vom Tellerwäscher zum Millionär einst zu seiner Maxime gemacht hatte. Das Problem hat sich über Jahre entwickelt, 2016 bricht es auf.
CLINTON - DIE LOGISCHE KANDIDATIN, ABER NICHT DIE RICHTIGE?
Vielleicht sind die Jubelstürme für die scheidende First Lady Michelle Obama (52) der beste Gradmesser dafür, wie viel Begeisterung und Optimismus auch in diesem Wahlkampf möglich wären. Nichts davon sieht man bei der Demokratin Clinton. Die 69-Jährige gilt als die Verkörperung des Systems. Als Inbegriff des Immer-schon-da. Das kam in diesem Jahr, in dem sich so viele nach Neuanfang sehnen, nicht gut an. Anders ist es kaum zu erklären, dass der alte Bernie Sanders als interner Konkurrent im Vorwahlkampf mit seinen jungen Ideen eine solche Bewegung entfachen konnte.
Und so ist Clinton für viele zwar logische, aber zu späte Kandidatin - ihre Zeit sei eigentlich schon vorbei, heißt es oft. Clinton ist beschädigt. Sie gilt als das kleinere zweier Übel, als Staatsfrau mit Makel. Jeder hat eine Meinung über sie, geliebt wird sie nicht.
Das wurde zur Chance für Donald Trump. Und darin lag lange auch die Chance für den 75-jährigen Demokraten Sanders. Er hätte sie fast genutzt.
Rückblick: Februar 2016, die erste Vorwahl in Iowa verliert der Senator aus Vermont hauchdünn. Am Abend wird er im nächsten TV-Duell auf seine Konkurrentin Clinton treffen, am Nachmittag spricht er in einem Opernhaus in Rochester.
Im Publikum sitzen viele alte Menschen, die 88-jährige Birthe Filby ist von einer Farm in einem Nachbarort hergekommen. Warum Menschen ihn unterstützen sollten? „Wenn sie es nicht tun, geht dieses Land zugrunde.“ Auch eine jüngere Frau mit einem sechs Wochen alten Baby auf dem Arm jubelt Sanders laut zu.
Wie Trump gelang es Sanders, Teile der Gesellschaft zu erreichen, die sich abgehängt fühlen. Wie Trump begeisterte er viele mit der Aussicht auf etwas anderes. Nur war in seinen Mengen weniger Wut.
WAS IST DA LOS MIT DEN DEMOKRATEN?
Haben die Demokraten für das Oval Office nicht die „am besten vorbereitete Kandidatin aller Zeiten“ ausgesucht, wie Amtsinhaber Obama (55) es ausdrückt? Mag sein. Hillary Clinton kennt das Weiße Haus als First Lady, die Regierungsgeschäfte als Außenministerin von 2009 bis 2013. Sie hatte es mit fremden Despoten zu tun und half, Al-Kaida-Chef Osama bin Laden zu jagen. Doch sie machte in ihren 30 Jahren Politik auch große Fehler, löste Versprechen nicht ein, zeigte Wankelmut. Wer lange vorne steht, wird eher angreifbar.
Trotzdem rettete sich Clinton gegen Sanders. Unter dem Jubel Tausender Delegierter ließ sie sich beim Parteitag in Philadelphia wählen. Draußen besetzten die Sanders-Anhänger frustriert das Pressezentrum. Geteilte Freude wirkt selten ansteckend.
DER HASS AUF HILLARY
Dass Clinton bis heute keine Begeisterung weckt, ist das eine. Dass sie zur Hassfigur aufgebaut wurde, etwas anderes. In Europa unterschätzt man, wie sehr und wie tief viele Amerikaner Clinton ablehnen. Clinton als Person, gemeinsam mit ihrem Mann Bill als Paar, als System, auch als Frau. Die Clintons haben sich ihre Skandalchronik über Jahrzehnte erarbeitet. Viele misstrauen Hillary zutiefst. Ihr ungeschickter Umgang mit einer Erkrankung am Ende des Wahlkampfes? Öl ins Feuer. Ihre schnodderige E-Mail-Praxis in der Vergangenheit - das bringt die Leute extrem gegen sie auf.
Viele geben Clinton persönlich die Schuld an dem tödlichen Angriff auf das US-Konsulat im libyschen Bengasi 2012. Die Außenministerin, die schlief, als Tausende Kilometer entfernt vier amerikanische Patrioten ermordet wurden - es mag ein überzeichnetes Bild sein, aber es verfängt. Trump hat es nicht erfunden, aber er befeuert. Die Mutter eines Todesopfers war sein Gast beim dritten TV-Duell.
Wenn Trump in Reden Clintons Namen fallen lässt, schreien große Mengen Amerikaner: „Sperrt sie ein!“ Seine Anhänger kleiden ihren Hass in die passenden Accessoires. T-Shirts und Poster zeigen Clintons Konterfei hinter Gitterstäben, das Gesicht eine Fratze.
Es gibt sogar die Theorie, Clinton sei an Trumps Aufstieg Schuld. Weil sie Hass auf sich ziehe, kein Angebot für eine hellere Zukunft biete, habe sie ihn erst ermöglicht. Dabei hätte die republikanische Parteispitze den grellen Milliardär zu gerne selbst verhindert.
KEIN GEGENKANDIDAT DER REPUBLIKANER
Die Republikaner haben es nicht geschafft, sich auf den einen Gegenkandidaten zu Trump zu einigen. 16 Anwärter umfasste das Feld. Alle wollten, keiner konnte, Trump marschierte.
Als Ted Cruz, der Erzkonservative aus Texas, in Iowa den ersten Vorwahlsieg holte, schien es für die Parteioberen in die richtige Richtung zu gehen: Nur nicht Trump! Dabei war das der Anfang allen Übels. Die eigentlichen Favoriten wie Jeb Bush und Marco Rubio landeten unter ferner liefen. Bis zuletzt dachten die Traditionalisten, jemand aus dem alten Lager werde es schon richten - statt einen wirksamen Antipoden zu Trump aufzubauen. Der hatte Zeit. Und Geld. Und die ungeteilte Aufmerksamkeit der US-Medien.
POLITIK FÜR DIE OBEREN ZEHNTAUSEND
Die alten Eliten haben den Kontakt verloren zu denen, die sie wählen sollen. Zu den Minderheiten, die bald die Mehrheit sein werden. Zur weißen Mittelschicht, der sie seit langem kein funktionierendes Politikangebot mehr machen. Wie die Demokraten auch, betreiben die Republikaner Klientelpolitik, nur anders - hier eben meist für die oberen Zehntausend. Zerrissen von Scharfmachern der Tea Party wollen sie nicht einsehen, welchen Anteil sie am Zustand von 2016 haben.
DAS LAND DRIFTET WEG VON DEN WEISSEN
Bald nach dem Jahr 2040 wird es soweit sein. Wer heute in den USA geboren wird, sagt die Politologin Cathryn Clüver vom Kennedy-Center in Harvard, wird in einem Land leben und wählen, in dem die heutigen Minderheiten die Bevölkerungsmehrheit stellen. Clüver erläutert: „Die weißen mittelalten Unterstützer Trumps, der Großteil seiner Wähler, gehört buchstäblich der Vergangenheit an.“ Das wüssten die meisten - und auch das mache sie so wütend.
Beispiel Texas: Der stolze Südstaat ist eine Hochburg der Republikaner, sozialkonservativ, tief verwurzelt im christlichen Glauben. Eine Art „Wir-Gefühl“ regiert zwischen El Paso und dem Tal des Rio Grande. Texas bietet sich als Klischee an wie das Bayern der Vereinigten Staaten - nur mit Cowboyhut statt Lederhose.
Der Zuzug der Latinos aus Mexiko und anderen Staaten Lateinamerikas, aber auch die Anziehungskraft der wirtschaftlichen Stärke auf die Menschen armer US-Staaten wie Oklahoma hat das Wählerverhalten massiv verändert. Schon 2016 riechen die Demokraten Lunte. „Wir wollen jetzt die Grundlagen legen“, sagt Parteisprecher Tariq Towfeek. 2020 oder 2024 könnte das eintreten, was alte Garden weiter für undenkbar halten: Texas kippt zu den Demokraten.
Eine weitere Spaltung stünde bevor. Schon unter Obama hat sich das Land nachhaltig verändert. Homo-Ehe, Gesundheitsvorsorge, Marihuana im Alltag, gleiches Recht für Transgender - mit Liberalisierung und gesellschaftlicher Öffnung sind viele nicht einverstanden. Reformen und Neues wecken auch Ängste. Und die Sehnsucht nach einem vergangenen Amerika, das vielen Anhängern Trumps als das bessere erscheint.
TRUMPS GEFÄHRLICHE NÄHE ZU SCHARFMACHERN
Trump spielt offen mit Elementen rechter Gesinnung: Er hetzt gegen illegale Einanderer, Muslime und Medien, verwahrt sich gegen jede politische Korrektheit.
Er selbst mag keine besonders tiefgründige Ideologie verfolgen, aber im Fahrwasser seines Populismus schwimmen längst auch Antisemitismus und Rassismus mit. Rechtsextreme wie der einstige Ku-Klux-Klan-Führer David Duke wittern Morgenluft. Duke erklärte schon im Februar seine Unterstützung für Trump. Nun will er in den Senat.
„Trumps Wahlkampf gibt der Bewegung weißer Nationalisten eine lang erwartete Gelegenheit, ihre Botschaft zu verbreiten“, urteilt Sophie Bjork-James von der Vanderbilt Universität. Er beschere ihnen den größten Mitgliederzulauf seit Jahrzehnten. „Die Auswirkungen werden noch lange nach der Wahl spürbar sein.“
DIE MEDIEN SIND TEIL DES PROBLEMS
Die Rolle der US-Medien rückt ebenfalls ins Blickfeld: Es war nicht nur die 1:1-Übertragung fast aller Trump-Veranstaltungen bei CNN und anderen Sendern, die den Milliardär noch bekannter gemacht haben. Das Problem reicht tiefer. „Die liberalen Eliten haben die Bedingungen unterschätzt oder nicht beschrieben, die Trump so stark gemacht haben“, sagt Marc Redlich, Direktor des Warburg Chapter of the American Council of Germany. „Die meisten Journalisten sind komplett entkoppelt von diesen Schichten. Sie schreiben in einer Blase. Sie haben das Gefühl dafür verloren, was eigentlich los ist.“
WASHINGTON ALS SYMBOL LÄHMENDEN STILLSTANDS
Der Hass vieler Trump-Leute auf die Medien ist gefährlich, von ungefähr kommt er nicht. Sie gelten ihnen als Teil einer abgehobenen Kaste in Washington. Einer Elite, die keine Ahnung davon hat, wie es im Rest des Landes zugeht. „Establishment“, das ist 2016 in den USA ein Schimpfwort.
Die Ablehnung Washingtons ist nichts Neues, aber diesmal bricht sich eine lange aufgestaute Wut Bahn. Das Ansehen des Kongresses ist miserabel, auch weil er sich immer wieder selbst blockiert. Die politischen Lager stehen sich unversöhnlich gegenüber, Kompromisse finden sie nicht mehr. Die Republikaner haben die Blockade zur Maxime ihrer Politik erklärt.
Bei vielen Menschen ist so der Eindruck entstanden, da verwalteten Politiker ohne Realitätssinn einfach nur sehr viel Geld. „Ihnen wurde immer alles gegeben, sie waren nie verantwortlich für einen Lohnzettel, sie haben keine Ahnung, wie man ein Unternehmen führt“, meint Jody Whitmyer, der an der Westküste Floridas Wahlkampf für Trump macht.
RADIKALISIERUNG UND ATOMISIERUNG DER MEINUNGEN
Eine gesamteuropäische Öffentlichkeit aller Staaten gab es nie, die US-amerikanische Öffentlichkeit löst sich auf. Oft mit einem breiten Mangel an Informationen begründet, noch öfter mit dem Fehlen von Bildung. Vielerorts existieren keine Zeitungen mehr. Die Atomisierung der Meinungen, die Adressierung aller nur denkbaren Gruppen über Social Media, die Hetze in rechten Talk Radios und die immer mögliche Bestätigung aller Thesen irgendwo im Internet: All das macht Politik in den USA oft hilflos und diffus. Liefert sie nicht mehr, wenden Menschen sich ab. Oder sie laufen in Scharen Populisten hinterher, die dem mächtigsten Amt der Welt so nahe gekommen sind, dass schon lange niemand mehr über ihren gelben Haarhelm lachen mag.