Analyse: Auf dem rechten Auge blind?
Berlin (dpa) - Für die Verfassungsschützer wird es immer enger. Auch am Montag konnte niemand den Vorwurf entkräften, zumindest Thüringer Geheimdienstler hätten die mörderische Neonazi-Gruppe aus Jena über viele Jahre als Informanten beschäftigt.
Sollte dies der Grund dafür gewesen sein, dass die Rechtsextremisten ein Jahrzehnt lang unbehelligt blieben? Auch der hessische Verfassungsschutz gerät nach einem Zeitungsbericht über einen Fall der rechtsextremen Mordserie womöglich ins Zwielicht: Während eines Mordes in Kassel soll sich nach Informationen der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (Dienstag) ein Verfassungsschützer am Tatort, einem Internetcafé, aufgehalten haben. Die Ermittlungen dazu seien aber eingestellt worden.
Die Bundesregierung verspricht Aufklärung, das Bundesamt für Verfassungsschutz will es nicht gewesen sein. Die Forderung nach einem NPD-Verbot erhält neue Unterstützung - auch von Kanzlerin Angela Merkel.
Grobes Geschütz fährt vor allem die Linke auf. „Ungestrafte faschistische Morde und ungesühnte Pogrome gegen Ausländer“ beklagt die Bundestags-Abgeordnete Sevim Dagdelen. „Der nationalsozialistische Untergrund in Deutschland ist zugleich auch ein Geheimdienst- und Sicherheitsbehördensumpf.“ Die Linke-Vorsitzende Gesine Lötzsch spricht vom „größten Verfassungsschutz- und Justizskandal der Nachkriegsgeschichte in Deutschland“.
Aber auch der SPD-Innenexperte Dieter Wiefelspütz ist entsetzt. Er spricht von einem „beispiellosen Vorgang, nahezu unfassbar“. Die Sicherheitsbehörden hätten nun eine „Bringschuld“, ihr eigenes Wissen offenzulegen. Aber ganz abgesehen von der Rolle der Verfassungsschützer bei einer der schlimmsten Mordserien in Deutschland treibt auch Experten die Frage um, ob die Thüringer Rechtsterroristen wirklich ganz allein getötet haben oder nicht doch zumindest logistische Unterstützung hatten.
Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sagt deshalb: „Was mich wirklich umtreibt, ist: Gibt es ein fester gefügtes rechtsextremistisches Netzwerk in Deutschland als bisher angenommen wurde?“ Das sei „eine erschütternde Situation - und deshalb mehr Fragen bisher als Antworten“. Jedenfalls sollen die Strukturen des Verfassungsschutzes auf den Prüfstand gestellt werden. Das kann auch als Eingeständnis gewertet werden, dass der Rechtsterrorismus bisher nicht entschlossen genug bekämpft wurde.
Leutheusser-Schnarrenberger sprach sich auch gegen ein neuerliches NPD-Verbotsverfahren aus - mit dem für viele einleuchtenden Argument, dass es genau die zwielichtige Rolle der V-Leute des Verfassungsschutzes war, die den ersten Verbotsantrag scheitern ließ. Doch dann ließ auf dem CDU-Parteitag in Leipzig die Kanzlerin die Bereitschaft für einen neuen Verbots-Anlauf erkennen - also doch?
Der Terrorismus-Experte Stefan Aust („Der Baader Meinhof Komplex“) kann sich nicht vorstellen, dass die Mordserie an Ausländern und Zuwanderern ohne relevante Unterstützung möglich war. „Kein Terrorismus ohne Massenbasis“, sagte er im dpa-Gespräch. Eine „systematische Unterschätzung“ des Rechtsterrorismus durch die Politik sieht er nicht, aber vielleicht doch die Bereitschaft, zu schnell von Einzeltätern auszugehen - wie 1980 beim Oktoberfest-Attentäter, der eben doch nicht allein verantwortlich gewesen sei.
Der Berliner Rechtsextremismus-Experte Hajo Funke beklagt, dass die Gewaltbereitschaft der rechten Szene oft unterschätzt worden sei. „Die Bereitschaft zu extremer politischer und rassistischer Gewalt ist da.“ Die Zahl der rassistischen Morde schätzt er auf über 100 seit 1990. Und er sieht die Gefahr einer Wiederholung der jetzt aufgedeckten Mordserie. Aber er spricht auch von der Chance, den „braunen Sumpf“ auszutrocknen. „Der Druck ist enorm, der politische Wille erheblich“, sagt Funke.