Analyse: Boom-Land Türkei staunt über Hellas-Krise
Istanbul (dpa) - In unmittelbarer Nachbarschaft Griechenlands brummt das Geschäft. Die Türkei entwickelt sich zur Wirtschaftsmacht, die in den vergangenen Jahren mit ihren Wachstumsraten verblüfft hat und inzwischen selbst Ziel von Wirtschaftsmigranten ist.
Raki schlägt Ouzo.
Als türkische Behörden im vergangenen Jahr eine zunehmende Zahl griechischer Arbeitssuchender registrierten, machte das in Istanbul Schlagzeilen. Mit einer Mischung aus Verwunderung und Stolz registrierte die aufstrebende Wirtschaftsmacht Türkei mögliche „Gastarbeiter“ aus der Europäischen Union, mit der Millionen Türken die Hoffnung auf ein besseres Leben verknüpft haben.
Während Griechenland am Rande der Pleite um ein schmerzhaftes Reformprogramm ringt, lärmen in der türkischen Wirtschaftsmetropole Istanbul die Baumaschinen bis in die Nacht. Geldgeber aus dem Ausland suchen zwischen neuen Fabriken und den immer größer und schicker werdenden Einkaufszentren auch in Anatolien nach Gelegenheiten für aussichtsreichen Investitionen.
An der Akropolis verfolgen sich Polizei und Demonstranten, am Bosporus dagegen jagt eine Erfolgsmeldung die nächste. Unter der Regierung der islamisch-konservativen AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ist die Wirtschaft in den vergangenen Jahren durchschnittlich um mehr als fünf Prozent gewachsen, trotz einer Delle in den Krisenjahren 2008 und 2009. Zusätzlich zur Metropole Istanbul sind in anatolischen Städten neue Wirtschaftszentren entstanden, die ihre Ware international handeln.
Gerade ist Turkish Airlines (THY) vom Luftfahrtforschungsinstitut Skytrax zur besten Fluggesellschaft in Europa gekürt worden. „Wir sind das erste türkische Unternehmen, das Europa überholt“, sagte der THY-Vorstandsvorsitzende Temel Kotil.
Inzwischen sind mehr als 3900 deutsche Firmen in der Türkei engagiert. „Die politische Stabilität ist ein tragendes Element“, sagte Marc Landau, Geschäftsführer der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer in Istanbul. Viele der deutschen Firmen sehen die Türkei zudem als Zentrum einer Region, die bis zum Golf und nach Nordafrika reicht. „Niedrige Löhne haben inzwischen eine nachrangige Bedeutung. In den osteuropäischen Nachbarländer wie Rumänien und Bulgarien sind sie niedriger. Aber dort ist auch die Produktivität geringer“, sagt Landau.
Viele einfache Arbeiter erhalten in der Türkei nur den Mindestlohn von umgerechnet rund 400 Euro, Fachkräfte und Geschäftsleute aber deutlich mehr. Inzwischen wird in dem nach einem EU-Beitritt strebenden Land pro Kopf gerechnet fast die Hälfte des EU-Durchschnittseinkommens verdient (2002: 36 Prozent, 2010: 48 Prozent), wie die Statistikbehörde Eurostat mitteilte. Damit hat das Land die EU-Staaten Bulgarien und Rumänien hinter sich gelassen. In Griechenland dagegen wird mit 89 Prozent deutlich mehr verdient.
Am Finanzmarkt kann sich die Türkei Geld billiger besorgen als mehrere EU-Staaten, obwohl die Türkei an mehrere nahöstliche Krisenherde angrenzt und selbst erst in den Jahren 2001 und 2002 eine schwere Bankenkrise erlebt hat. Gegen den Widerstand der eigenen Wirtschaft hat Erdogan auf neue Kredite des Internationalen Währungsfonds verzichtet und damit auch Auflagen abgewendet. Der Schritt schien riskant. Doch Investoren haben ihr Vertrauen nicht verloren.
Ihre Rolle als Drehkreuz hat die Türkei weiter ausgebaut. Mit mehr als 60 Staaten gibt es inzwischen visumsfreien Reiseverkehr. Ausländer sind willkommen, vor allem wenn sie Geld und Geschäftsideen mitbringen. Die offenen Türen haben aber auch zu einer großen Zahl illegaler Arbeiter aus Osteuropa und arabischen Staaten geführt, die vom türkischen Staat und den Sozialsystemen allerdings nichts zu erwarten haben. Ausländer können ihre Kinder auch nicht auf öffentliche, staatlich finanzierte Schulen schicken.
Es gebe weltweit eine Verschiebung der Kräfte, schrieb Erdogan Anfang des Jahres in einem Kommentar, den das US-Magazin „Newsweek“ veröffentlichte. „Die Finanzkrise hat gezeigt, dass Europa mehr Dynamik und Veränderung benötigt: Europas Arbeitsmärkte und Sozialversicherungen sind komatös. Die europäischen Volkswirtschaften stehen still. Europas Gesellschaften sind fast geriatrisch“, schrieb er. Mit dem Erfolg hat sich auch eine gewisse Selbstherrlichkeit eingestellt.
Es gibt auch warnende Stimmen. Die starke Abhängigkeit der Türkei von der Baubranche und kurzfristigem Kapital aus dem Ausland gelten als Risiken. Zudem ist es der türkische Regierung noch nicht gelungen, den armen Osten des Landes zu entwickeln und die Kluft zwischen Arm und Reich in dem 73-Millionen-Volk ausreichend zu überbrücken. Doch ist aus dem einstigen Sorgenkind ein kräftiger junger Mann geworden, der nun gewissermaßen über die EU-Grenze die Krankengeschichten der Älteren verfolgt.
Inzwischen sieht selbst Griechenland die Türkei als mögliches Vorbild. Andere Länder hätten auch schwere Krisen erlebt und seinen danach wirtschaftlich wieder erstarkt, wird der griechische Ministerpräsident Giorgos Papandreou in der Türkei zitiert. „Warum können wir nicht machen, was unsere türkischen Nachbarn gelungen ist.“