Analyse: Der Schein der Normalität trügt

Fukushima (dpa) - Das Reaktorunglück von Fukushima vor zwei Jahren war das schwerste seit Tschernobyl. Die Folgeschäden für die Betroffenen sind immens. Doch ist Japan ein anderes Land geworden? Der Schein spricht dagegen.

Vor dem Bahnhof Fukushima flanieren Passanten mit Einkaufstaschen an den Geschäften vorbei, Kinder in Schuluniform laufen kichernd durch den Schnee. Zwei Jahre nach dem Super-GAU im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi gehen die Menschen in der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz scheinbar unbeschwert wieder ihren Alltagsgeschäften nach. Doch der Schein der Normalität trügt.

Während der neue Ministerpräsident Shinzo Abe (58) die Rückkehr zur Atompolitik vorbereitet und sich - wie Kritiker meinen - im Zusammenspiel mit den Medien bemüht, die Menschen ihre Sorgen vor der Strahlung vergessen zu lassen, stehen Zehntausende Menschen in den betroffenen Regionen weiterhin vor einer ungewissen Zukunft.

Das Erdbeben und der Tsunami zerstörten am 11. März 2011 nicht nur das Atomkraftwerk Fukushima, sondern walzten ganze Landstriche nieder - und damit auch die Arbeitsplätze und die Lebensgrundlage der Menschen in der von Überalterung und Abwanderung stark betroffenen Region. Mehr als 15 800 Menschen starben durch den Tsunami, viele werden weiter vermisst. Kritiker beklagen, der Wiederaufbau komme zu langsam voran.

Zehntausende Opfer leben noch heute in engen Behelfsunterkünften. Familien und ganze Dorfgemeinschaften sind auseinandergerissen. Viele waren früher Bauern und Fischer. Jetzt haben sie nichts mehr zu tun, werden immer öfter krank, vereinsamen, manche verfallen dem Alkohol.

Während die neue Regierung Abe stolz ist, den Wiederaufbauetat deutlich aufgestockt zu haben, fordern Katastrophenhelfer vor allem Unterstützung für die seelische Versorgung der Menschen. Viele können auch nach zwei Jahren noch nicht über das erlebte Grauen reden. Junge Menschen sind auf der Suche nach einem Arbeitsplatz weggezogen. Noch heute sind viele Geschäfte in vom Tsunami betroffenen Städten wie Ishinomaki geschlossen.

Auch wenn die Trümmer aufgeräumt sind, die Wunden sind noch vielerorts sichtbar. Nicht sichtbar ist dagegen die Strahlung in Fukushima in Folge des ebenfalls schwer zerstörten Atomkraftwerks, die noch immer Zehntausende an eine Rückkehr in ihre Häuser hindert. Der GAU ist zum eigentlichen Inbegriff der Tragödie von „3/11“ - dem 11. März - geworden, wenngleich die schlimmste Atomkatastrophe seit Tschernobyl selbst kein einziges direktes Todesopfer gefordert hat.

Zwar ist die Atomruine nach Darstellung der Regierung und des Betreibers Tepco unter Kontrolle. Ein großes Problem bereiten jedoch die Unmengen Wasser, die weiterhin zur Kühlung der beschädigten Reaktoren benötigt werden. 360 500 Kubikmeter verstrahlten Wassers habe sich angesammelt, die Auffangbehälter seien fast voll, warnt die Zeitung „Mainichi Shimbun“. Gerüchten nach erwägt Tepco ein erneutes Ableiten ins Meer.

Derweil hat der Staat mit einem enormen Aufwand die Dekontaminierung riesiger Landstriche veranlasst, um die Belastung überall unter ein Millisievert/Jahr zu senken. Doch auch das wirft Probleme auf. Zum einen werden die Methoden, etwa der Strahlung mit Hand und Schaufel beizukommen, von vielen Menschen angezweifelt. Man könne sowieso nicht überall dekontaminieren, zum Beispiel die vielen Bergwälder. Radioaktivität komme von dort immer wieder nach. Auch weiß niemand, wohin mit den wachsenden Bergen an Atommüll, denn noch immer gibt es keine Entscheidung über Zwischenlager.

Arbeiter berichten davon, wie strahlender Abraum einfach in Flüssen und Wäldern illegal beseitigt wurde. Unerfahrenheit und mangelnde Koordination der an den Arbeiten beteiligten Bürger und Verwaltungen, fehlende Überwachung und mangelhafter Austausch von Informationen sind weitere Probleme. „Die Dekontaminierung um jeden Preis ist ein Hindernis“, stellt Hiroshi Suzuki, Vorsitzender des Wiederaufbaukomitees von Fukushima, fest. Auch der Verzicht auf Dekontaminierung je nach Situation müsse eine Option sein.

Kritiker vermuten, dass die Regierung Abe mit dem Riesenaufwand die Folgen des Atomunfalls herunterspielen will. Auf diese Weise wolle sie den Widerstand gegen ein Wiederanfahren der nach dem GAU abgeschalteten AKWs aufweichen. Währenddessen profitiere die vom Staat mit der Dekontaminierung beauftragte Bauindustrie, die seit jeher eine starke Wählerbasis für Abes Regierungspartei LDP ist.

Dagegen sind Hunderttausende von Opfern noch immer nur unzureichend oder gar nicht für den Verlust ihres Eigentums entschädigt worden. Viele Evakuierte sind verunsichert, wann und ob überhaupt sie jemals wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Andere, die aus Angst vor der Strahlengefahr die Provinz von sich aus verließen, haben keinen Anspruch auf Entschädigung und fühlen sich vom Staat unfair behandelt.

Die Bauern in Fukushima, der einstigen Kornkammer des Inselreiches, leiden noch heute unter einem Strahlenstigma. Verschlimmert wird die ganze Problematik noch dadurch, dass die Glaubwürdigkeit öffentlicher Informationen wie auch der Medien des Landes sowie der Wissenschaft erheblich gelitten hat.

Während sich die einen mit der erhöhten Radioaktivität abfinden, machen sich vor allem Mütter große Sorgen um ihre Kinder. Doch zwei Jahre nach der Katastrophe wollen viele davon nichts mehr hören. Während Regierung und Medien zunehmend das Wiederanfahren der Atomkraftwerke thematisieren und Abe nicht ausschließt, dass der Anteil der Atomkraft an der Energieversorgung möglicherweise sogar erhöht wird, befällt Opfer des GAUs das Gefühl, vergessen zu werden.

„Wenn ich heute in ein Buchgeschäft gehe, sehe ich nur noch sehr wenige Bücher über den Atomunfall“, beklagt Sachiko Mashio, die bis zur Atomkatastrophe ein Restaurant in Namie nahe dem AKW betrieb. Vorher habe es viel mehr Bücher zu dem Thema gegeben. Statt die Region Fukushima zu evakuieren, lasse der Staat die Menschen dort einfach weiter leben und investiere stark in die Radiologie an Fukushimas Medizinischer Universität, sagt Katsutaka Idogawa, Ex-Bürgermeister der Stadt Futaba. Sie seien zu „Versuchskaninchen“ in einem großen Strahlenexperiment geworden.