Analyse: Der SPD-Hürdenlauf zur großen Koalition
Berlin (dpa) - Die Angst vor der Basis war 1966 nicht geringer als heute. Damals wurde aus Sorge vor einem Proteststurm erst knapp ein Jahr nach Regierungsbildung bei einer SPD-Bundeskonferenz über die erste Große Koalition debattiert.
Vom 13. bis 15. November 1967 fand in der Stadthalle von Bad Godesberg das Treffen statt, über das die „Zeit“ mit der Überschrift „Die Revolte blieb aus“ berichtete. Zuvor gab es bereits 41, teils kontroverse SPD-Regionalkonferenzen. Trotz Schlappen bei Landtagswahlen gelang es SPD-Chef und Vizekanzler Willy Brandt aber, die 800 Delegierten in Bonn-Bad Godesberg einzunorden.
In der Rolle des Moderators steckt 2013 auch SPD-Chef Sigmar Gabriel. Schon vor dem Eintritt in eine große Koalition steht ein mehrstufiges Verfahren. Die erste Etappe war das grüne Licht eines Parteikonvents für Sondierungen mit der Union. Der kleine Parteitag mit 235 stimmberechtigten SPD-Mitgliedern ist das höchste Beschlussgremium zwischen Bundesparteitagen. Die zweite Etappe ist nun das Ringen um ein Ja des Konvents zu Koalitionsverhandlungen - am Ende sollen die 470 000 Mitglieder über einen Vertrag abstimmen. Das dauert, spätestens Weihnachten könnte die große Koalition stehen.
Wochenlang haben SPD-Politiker der ersten bis dritten Reihe die große Koalition als Graus beschrieben. Entsprechend hoch wurde die Messlatte in der Partei gelegt. Dadurch wird die Operation nun zu einem Hürdenlauf - mit mehreren Stolperfallen. Trotzdem dürfte der Konvent Koalitionsverhandlungen absegnen.
Allerdings sind neue Spekulationen, wonach die SPD in jedem Fall das bisher von Wolfgang Schäuble (CDU) geführte Finanzministerium wolle, Gift. Denn offiziell soll es primär um Inhalte gehen, nicht um Posten. 2005 bei der zweiten und bisher letzten großen Koalition wurden erst Ressorts verteilt - dann ging es um Inhalte.
„Weder bei den Sondierungen noch in den internen Gesprächen auf SPD-Seite ist bislang über Kabinettsposten auch nur gesprochen worden“, sagt SPD-Chef Gabriel. Aber einflussreiche SPD-Politiker bezeichnen das Finanzressort als essenziell, weil der Minister als Herr über das Geld ein Veto-Recht gegen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) habe. Nur: Die SPD hat dafür kaum Kandidaten. Gabriel wäre als Vizekanzler gesetzt, wird als Arbeits- oder Energieminister genannt.
Beim Parteikonvent könnte der Vorstand eine Beschlussempfehlung vorlegen mit Prüfsteinen für die Koalitionsverhandlungen mit der Union. Der Konkretisierungsgrad könnte unterschiedlich ausfallen - die einzige klare rote Linie ist der Mindestlohn von 8,50 Euro in Ost- wie Westdeutschland. Gerade weil die SPD im gesamten Osten nur ein Direktmandat gewonnen hat, würde sie hier gerne ihr soziales Profil schärfen. Da die Union aber bei 8,50 Euro im Osten Jobverluste fürchtet, könnte ein Kompromiss in einer stufenweisen Anhebung liegen. Als Blaupause wäre die Lösung wie in der Zeit- und Leiharbeit denkbar: Dort gibt es einen tariflich vereinbarten Stufenplan, mit dem im Osten im Juni 2016 die Zielmarke von 8,50 Euro erreicht wird.
Von Vorteil für den Gesamtprozess ist sicher die ziemlich steile Lernkurve der Hannelore Kraft. In den drei Wochen nach der Wahl gab sie zunächst die Bedenkenträgerin. „Die SPD ist nicht dafür angetreten, um als Mehrheitsbeschafferin die CDU an der Regierung zu halten“, beschloss der Landesverband der NRW-Ministerpräsidentin. In der Sondierung mit der Union gab es Knatsch. Sodann folgte die schon jetzt berühmte Versöhnung mit CSU-General Alexander Dobrindt auf dem Balkon der Parlamentarischen Gesellschaft.
Kraft ging in die Offensive, Tenor: Ja, sie sei skeptisch gewesen, aber das Sondierungsergebnis stimme. „Wir haben an wesentlichen Punkten deutlich gemacht, wo die Reise hingeht.“ Die SPD sei trotz 25,7 Prozent kein Juniorpartner der Union (41,5 Prozent). Kraft hat den einstimmigen Beschluss für Verhandlungen über eine große Koalition mitgetragen. Nun muss sie dafür in die Bütt.
Bei SPD-Chef Gabriel hört es sich weniger danach an, dass die SPD in einer großen Koalition bestimmen könnte, wohin die Reise geht. Man sei in der schwierigen Situation, dass die SPD viele Dinge als Regierungspolitik durchsetzten solle, „obwohl sie dafür kein Mandat bekommen hat“. Es ist wohl der Versuch, Erwartungen der Basis etwas zu dämpfen. Vor einer großen Koalition stehen harte Verhandlungen.