Analyse: Die Gaza-Bewohner und ihr neues Sprachrohr

Gaza (dpa) - Als die israelischen Streitkräfte Anfang dieser Woche ihre Angriffe auf den Gazastreifen verstärkten, genügten Mohammed Suliman drei knappe Sätze auf Twitter, um das Geschehen draußen und sein persönliches Erleben zusammenzufassen.

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„Ich habe fast mein ganzes Leben in Gaza verbracht. Krieg ist für uns also nichts neues. Dennoch sind dies die furchterregendsten Momente, die wir je erlebt haben.“

Suliman ist gerade mal Mitte 20 und hat bereits rund 38 000 Follower bei dem Kurznachrichtendienst. „Ich hoffe zu überleben. Falls nicht, erinnert euch, dass ich weder Hamas-Mitglied noch ein Extremist war, noch wurde ich als menschliches Schutzschild benutzt. Ich war zu Hause“, lautete eine Kurznachricht einige Tage zuvor.

Quasi über Nacht ist auch die 16-jährige Farah Baker von einigen Tausend zu mehr als 30 000 Followern gekommen. Der Grund: Die junge Palästinenserin twitterte live von den israelischen Luftangriffen auf Gaza. Ihr Nachrichtenstrom hat etwas vom Tagebuch einer Jugendlichen, die voller Angst und Fassungslosigkeit eine Militäroffensive verfolgt, deren Ende noch völlig offen ist.

„Das passiert in meiner Gegend. Ich kann nicht aufhören zu schreien. Ich könnte heute Nacht sterben“, postete die junge Frau am Montagmorgen gegen 1 Uhr. Dazu lud sie ein unscharfes Foto hoch, das einen von israelischen Leuchtraketen erhellten Nachthimmel zeigen soll. Zuvor hatte sie bereits von der „schlimmsten Nacht in diesem Krieg“ geschrieben. Auf ihrem Twitter-Account postet sie neben kurzen Videoclips auch Audiodateien, die Explosionen in ihrer Nähe sowie das unablässige Brummen der Drohnen über Gaza wiedergeben sollen.

„Das ist eine von Hunderten Bomben, die ich höre. Gaza. DU MUSST ZUHÖREN“, schreibt Baker zu einem Audioclip, den sie von außerhalb ihres Zimmers aufgenommen hat. Wie jeder Teenager ist sie recht großzügig beim Gebrauch von Großbuchstaben, Abkürzungen und Hashtags. Wie Suliman schreibt auch sie zumeist auf Englisch. Beide genießen mittlerweile auch internationale Aufmerksamkeit und wurden unter anderem von großen US-Sendern interviewt.

Während Israels letzter Offensive in Gaza - der Operation „Gegossenes Blei“, die im Januar 2009 endete - war Social Media gerade mal am Anfang, sich zu einer Art Sprachrohr für die Menschen in Gaza zu entwickeln. Mittlerweile nutzen sie verschiedene Plattformen wie Facebook und Twitter, um ihre Botschaften loszuwerden. Dabei umgehen sie nicht nur traditionelle Medien, sondern locken auch ein Publikum an, dass Schilderungen aus erster Hand bevorzugt.

Einige Experten haben bereits spekuliert, ob die jungen Menschen vor Ort und ihre Unterstützer weltweit Israel informationstechnisch vor eine neue Herausforderung stellen. Immerhin hatte sich Jerusalem in früheren Krisenzeiten ein gewisses Ansehen aufgrund seiner routinierter PR-Arbeit geschaffen.

Der Hashtag #Gazaunderfire etwa wird zuweilen rund 300 000 Mal täglich verwendet, während #Israelunderfire gerade mal rund 10 000 Mal getwittert wird. Das hält zwar noch keiner wissenschaftlichen Untersuchung hinsichtlich der weltweiten Unterstützung für die jeweilige Seite stand, ist aber ein Hinweis auf den Grad der Mobilisierung in Online-Netzwerken.

„Den Krieg um die öffentliche Meinung hat Israel international verloren“, meint etwa Paul Bell von der Kommunikationsberatung Albany und weist dabei auf die Bilder hin, die jeden Tag aus Gaza kommen.

Eine Gallup-Umfrage in den USA zeigt zwar, dass die Unterstützung für Israel nach wie vor stark ist, es gibt aber eine Kluft zwischen den Generationen. So hielten 42 Prozent der Befragten das Vorgehen Israels in Gaza für gerechtfertigt, während 39 Prozent das Gegenteil dachten. Auffällig ist, dass 55 Prozent der Personen über 65 Jahren Israel unterstützten, ihr Anteil aber auf gerade mal 25 Prozent bei den 18- bis 29-Jährigen sank. Die Jüngeren aber sind es, die aller Voraussicht nach immer mehr Zeit in Online-Netzwerken verbringen, wo große Gefühle und Echtzeit-Erfahrungen aus erster Hand hoch im Kurs stehen.