Analyse: Die große Unlust der SPD auf Schwarz-Rot

Leipzig (dpa) - Schlapp ist der Applaus. Gerade mal eine Minute und 45 Sekunden. Kein Jubel. Sigmar Gabriel hat gerade seine bisher nachdenklichste Parteitagsrede gehalten.

„Seid mir nicht böse, dass meine heutige Rede etwas weniger mitreißend als nachdenklich sein soll“, sagt der SPD-Chef gleich am Anfang zu den 600 Delegierten. Er versucht die Kluft seiner Partei zur großen Koalition zu überwinden.

Was sich da schon andeutet, wird am Donnerstagabend in der Leipziger Messehalle zur Gewissheit. Mit 83,6 Prozent Zustimmung erhält Gabriel sein mit Abstand schlechtestes Ergebnis, 2009 hatte er bei seiner ersten Wahl zum SPD-Chef 94,2 Prozent bekommen, 2011 91,6 Prozent. Kein gutes Mandat für die finalen Verhandlungen mit der Union: Er weiß nun, wenn er nicht viel rausholt, könnte die SPD Nein sagen. Gabriel nennt das Ergebnis „außerordentlich ehrlich“.

Leipzig ist ein Parteitag in einem seltsamen Schwebezustand. Kein Vergleich zu 2011 in Berlin: Das war ein Parteitag der Hoffnung, des Aufbruchs. Altkanzler Helmut Schmidt wärmte die sozialdemokratische Seele, Gabriel riss die Genossen mit, François Hollande war noch der Hoffnungsträger für ein neues Frankreich. Eher lethargisch die Stimmung in Leipzig. Zweifel. Erschöpfung bei denen, die seit Wochen die große Koalition aushandeln. Vorne fehlt ein Leitmotto, auf der rotfarbenen Wand prangt nur: „SPD-Bundesparteitag Leipzig 2013.“ Generalsekretärin Andrea Nahles hatte anderes im Sinn, aber das Wahlergebnis war halt nicht entsprechend. „"Mit Rot-Grün in die Zukunft" wäre ja ein bisschen schräg gekommen“, meint Nahles.

Gabriel blickt erstmal zurück, dankt dem Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück: „Du bist einfach ein feiner Kerl.“ Steinbrück hatte zuvor versprochen: „Dies ist kein Abschied.“ Die SPD werde sich, so lange er lebe, auf seine Solidarität verlassen können. „Die Pferde meiner Kavallerie bleiben gesattelt.“ Doch woran hat es gelegen, dass die SPD am 22. September nur 25,7 Prozent bekam und daher nun vor einer Zerreißprobe in Sachen Koalition mit der Union steht?

„Mit uns wird es weder eine politische Liebesheirat noch eine Zwangspartnerschaft geben“, so Gabriel, sondern eine „befristete Koalition der nüchternen Vernunft.“ Die Verunsicherung ist deutlich zu spüren, Gabriel greift diese Stimmung auf. Er sagt, Wahlforscher hätten ermittelt, dass es eine wachsende Kluft zwischen den SPD-Funktionären und ihrer Kernwählerschaft gebe. „52 Prozent der Wähler sagen, die SPD sei nicht mehr die Partei der kleinen Leute.“

Er senkt die Stimme, erzählt eine Begegebenheit aus seiner Heimatstadt Goslar. Seine Frau, eine Zahnärztin, habe dort in einem Stadtteil mit hoher Arbeitslosigkeit eine Zahnarztpraxis übernommen. Eine arme Frau rief in der Praxis an. Ob denn nun, nachdem dies die Praxis der Frau des SPD-Chefs geworden sei, die armen Leute auch noch kommen könnten, wollte sie wissen. „Oder ob jetzt nur noch die Oberen dort behandelt werden?“, berichtet Gabriel von dem Telefonat.

Er findet die Begebenheit erschreckend. Kluge und gute Programme reichten für die Überbrückung der Kluft nicht aus. „Es gilt die alte Weisheit von Tucholsky: Die Menschen wissen nicht alles ganz genau, aber sie fühlen das meiste sehr genau“, sagt er. Die SPD müsse mit einer Politik aus den Augen der Menschen die Kluft mindern.

Doch geht das in einer großen Koalition? Gabriel bekräftigt, es müsse einen bundesweiten Mindestlohn von 8,50 Euro geben. Könne die SPD sich verweigern, wenn der komme? Wenn es auch den Doppelpass für gebürtige Türken gebe, für den man so lange gekämpft habe?

Manch Delegierter in Leipzig macht sich schon Gedanken, wie man aus der Koalition wieder rauskommt, in der man noch nicht einmal ist. Geht der Mitgliederentscheid über den Eintritt im Dezember schief, prophezeit ein einflussreicher Sozialdemokrat mit Blick auf die Parteispitze: „Tja, dann ist viel Platz in der ersten Reihe.“

Gabriel versucht die kritische Stimmung zu kanalisieren: Fern am Horizont öffnet er die SPD für Rot-Rot-Grün. 2017 soll ein Bündnis mit der Linkspartei nicht mehr tabu sein. Aber die Linke müsse ihre Politik ändern, nicht die SPD: Der Schlüssel liege „nicht im Willy-Brandt-Haus, sondern im Karl-Liebknecht-Haus“. Mittelfristig will die SPD wieder 30 Prozent plus x schaffen, aber vorerst ist der Traum vom Politikwechsel geplatzt.

Andere wie SPD-Vize Olaf Scholz mahnen eine Politik der Mitte und mehr wirtschaftspolitisches Profil an - derzeit trauen zu wenige der SPD die Schaffung neuer Jobs zu. Gabriel will auch die Leerstelle der FDP füllen. Ein klarer Kurs muss noch errungen werden. Als er zum Schluss Willy Brandt zitiert, klingt das ein wenig wie eine Umschreibung der SPD in einer möglichen großen Koalition: „Wenn der Fortschritt denn eine Schnecke ist, messen lässt er sich doch.“