Analyse: „Ein hohes Maß an krimineller Energie“
Berlin (dpa) - Was auf dem Firmengelände im niedersächsischen Bösel genau passiert ist, wissen wohl nur die Mitarbeiter selbst. „Kein Kommentar, auf Wiedersehen“, ist das einzige, was es in diesen Tagen dort zu hören gibt.
In dem Unternehmen soll das Dioxin in das Futterfett gelangt sein. Eigentlich ist der Betrieb eine Spedition für den Vertrieb von Back- und Bratfetten, Flüssigei und Ölen. Die Futterfettproduktion wurde wohl illegal betrieben, vermuten Behörden.
Selbst die Bundesregierung spricht in dem immer größere Dimensionen annehmenden Dioxin-Skandal inzwischen von Indizien für „ein hohes Maß an krimineller Energie“. Bereits im März hatte das Unternehmen Harles und Jentzsch aus Schleswig-Holstein, das mit der Spedition in Bösel beim Vertrieb kooperiert, Hinweise auf erhöhte Dioxin-Werte. Gemeldet wurde dies den Behörden aber nicht. Das bringt das angeblich um Transparenz bemühte Unternehmen nun noch mehr in Erklärungsnöte.
Als der Futtermittel-Skandal zur Jahreswende an Fahrt aufnahm, sagte Geschäftsführer Siegfried Sievert noch mit Blick auf ein anderes belastendes Probenergebnis aus dem Dezember: „Wir haben die Verunreinigung bei einer Routineuntersuchung selbst festgestellt und sofort den Behörden gemeldet.“
Am Freitagnachmittag kam für den Mann mit Halbglatze und Schnauzer der nächste Schlag: Neue Proben des Kieler Agrarministeriums wiesen in Sieverts untersuchten Futterfetten fast 78-fach zu hohe Dioxinwerte nach.
Erstmals greift nun der 2009 im Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuch (LFGB) verankerte Pranger: Unternehmen, die in einen Lebensmittel-Skandal verwickelt sind, dürfen namentlich genannt werden. Angesichts des wirtschaftlichen Schadens und des verdorbenen Rufes ist dies wohl die härtestmögliche Strafe. Gegen Sievert gibt es nun sogar eine Anzeige wegen versuchten Mordes.
Die Bauern pochen auf einen Entschädigungsfonds der Futterbranche - realistisch ist aber eher, dass lediglich die Haftpflicht der Futtermittelhändler greift. Die Versicherungen dürften dann auch bei Sievert anklopfen, um sich das Geld zurückzuholen. Bauernpräsident Gerd Sonnleitner bezifferte den Schaden für die betroffenen Bauern auf 40 bis 60 Millionen Euro pro Woche.
Eine weitere Merkwürdigkeit: Der Betrieb in Bösel war amtlich wohl gar nicht gemeldet, weshalb er nicht kontrolliert werden konnte. Deshalb hätten auch mehr als die derzeit 2500 staatlichen Prüfer das Dioxindebakel kaum verhindern können. Inzwischen gibt es nach Angaben des niedersächsischen Agrar-Staatssekretärs Friedrich-Otto Ripke (CDU) Indizien, dass mit Dioxin verseuchtes Frittenfett aus dem Ausland Keim des Übels sein könnte.
Es soll vom Biodieselhersteller Petrotec an Harles und Jentzsch gegangen sein. Dieses wurde in Bösel aber wohl nicht zur Herstellung von technischen Fetten, etwa zur Papierverarbeitung, benutzt, sondern für die Futterfettproduktion. Die erste Konsequenz aus dem Fall ist für Bundesagrarministerin Ilse Aigner (CSU) klar. Künftig soll ein Betrieb nicht mehr auf dem selben Gelände Industrie- und Futterfette herstellen dürfen.
Sonst besteht immer die Gefahr, dass einfach der Hebel umgelegt wird - möglicherweise ist der Fall nur die Spitze des Eisberges. Wenn Fett gepanscht wird, ist das lukrativ: Denn für Futterfettsäure gibt es laut Bauernverband 40 bis 60 Cent pro Kilo - dreimal so viel wie für Industriefette.
Futterfett wird mit einer Rate von zwei bis zehn Prozent ins Futter gemischt. So wanderte im aktuellen Fall reichlich Dioxin in die Tiernahrung - bis zu 150 000 Tonnen stehen unter Verdacht. Aber die Bundesregierung betont: Zwei Drittel aller Proben bei Eiern und Fleisch hätten bisher keine auffälligen Werte gezeigt, die anderen Proben maximal nur leicht erhöhte Werte. Das war allerdings vor den neuesten Probeergebnissen mit erschreckenden Dioxinwerten.
Die Länder und die Bundesregierung sind um Schadensbegrenzung bemüht - aber der Fall offenbart besorgniserregende Lücken in der Kontrolle der Futterkette. Wenn schon im März eigene Untersuchungen bei Harles und Jentzsch erhöhte Werte zeigten, wirft das die Frage auf, ob hier nicht nachjustiert werden muss.
Die Verbraucher sind unsicher geworden. Bei den Eiern sei ein deutlicher Absatzrückgang spürbar“, sagt Margit Beck von der Bonner Marktberichterstattungsstelle MEG. Die Folge: Die Preise für Eier brechen trotz 4700 gesperrter Höfe ein. Die Geflügel- und die Milchbranche mühen sich um Schadensbegrenzung: Das Ei sei sicher, und in der Milch kein Dioxin.
Der deutsche Skandal zieht bereits weltweit Kreise. Selbst der arabische Sender Al-Dschasira bittet im Aigner-Ministerium um Informationen. Und die Slowakei erließ am Freitag ein Verkaufsverbot für Eier und Geflügelfleisch aus Deutschland.