Analyse: Ein Mann macht Mut
Berlin (dpa) - Joachim Gauck ist das Reden gewohnt, er hat damit in den vergangenen zehn Jahren sein Geld verdient. Aber diesmal ist es etwas anderes. Bis zuletzt soll er am Text gefeilt haben.
Als er am Freitag an das Rednerpult des Bundestages tritt, spürt er die großen Erwartungen, nicht nur hier im Plenarsaal, auch bei den Medien, den Bürgern, denen so viel Verdrossenheit mit der Politik nachgesagt wird. Und dann beginnt er mit einer ebenso schlichten wie wichtigen Frage: „Wie soll es nun aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel "Unser Land" sagen sollen?“
Wer befürchtet hat, der 11. Bundespräsident werde in seiner ersten Grundsatzrede allzu pastoral oder gar pathetisch, der wird korrigiert. Ziemlich konkret benennt Gauck Probleme dieses Landes und die Ziele seiner Präsidentschaft. Überraschend deutlich knöpft er sich den Rechtsextremismus vor. Und unmissverständlich lobt er die 68er-Bewegung, die auch beispielgebend für den Umgang mit der Vergangenheit in der Ex-DDR gewesen sei. An dieser Stelle wird der 72-Jährige erstmals von Beifall unterbrochen, recht verhalten allerdings auf der Seite der CDU/CSU.
Der parteilose Pastor aus der DDR lässt die ihm doch relativ fremde Geschichte der alten Bundesrepublik Revue passieren, spricht von einem „Demokratie-Wunder“, aber auch von den Defiziten der Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit. Und dann fordert er ein klares Ja zu Europa. „Gerade in der Krise heißt es deshalb: Wir wollen mehr Europa wagen.“ Mit diesem Satz erinnert Gauck an den früheren SPD-Kanzler Willy Brandt, der 1969 in seiner ersten Regierungserklärung gesagt hatte: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“
Fällt die europapolitische Positionsbestimmung angesichts der schweren Probleme der EU noch etwas dürftig aus, findet Gauck sehr entschlossene Worte zum Thema Rechtsextremismus: „Euer Hass ist unser Ansporn. Wir lassen unser Land nicht im Stich. Wir schenken euch auch nicht unsere Angst. Ihr werdet Vergangenheit sein und unsere Demokratie wird leben.“
Fehlerlos spricht Gauck zuvor die Eidesformel, selbstverständlich mit dem Zusatz: „So wahr mir Gott helfe.“ Nach dem Schwur auf die Verfassung kommt er an der Regierungsbank vorbei, gibt Bundeskanzlerin Angela Merkel die Hand, wie später noch einmal, als wolle er sich noch einmal ihrer Unterstützung versichern, die doch bei seiner ersten Kandidatur 2010 gar nicht und 2012 nur sehr zögernd gekommen war.
Auf den vier Ehrenplätzen im Plenum nehmen neben Gauck und seiner Lebensgefährtin Daniela Schadt auch Christian und Bettina Wulff Platz. Das unrühmliche Ende des Gauck-Vorgängers wird an diesem Tag mit keinem Wort erwähnt, stattdessen bekommt Wulff Lob von Lammert und von Bundesratspräsident Horst Seehofer und schließlich sogar von Gauck selbst wegen seines Engagements für die Integration der Muslime. Ein versöhnlicher Abgang nach dem monatelangen Gezerre um Privatkredit und Urlaubsreisen sollte zumindest versucht werden.
Auf der Besuchertribüne allerdings haben die drei Altpräsidenten Richard von Weizsäcker, Roman Herzog und Horst Köhler nebst Gattinnen Platz genommen. Bei Wulffs Verabschiedung hatten sie sich nicht blicken lassen - und sich damit deutlich distanziert von dem Mann, der nach nur 20 Monaten zum Rücktritt gezwungen worden war.
Dass Gauck nach der Amtszeit Wulffs wieder Vertrauen schaffen könnte in das Amt, in das politische System insgesamt, diese Hoffnung bekommt am Freitag im Bundestag neue Nahrung. Wie erwartet variiert er sein Lieblingsthema der Freiheit und Verantwortung, bekennt sich aber auch klar zur sozialen Gerechtigkeit.
Am Ende beinahe stürmischer Beifall nach der gut 20-minütigen Rede. Gauck schüttelt viele Hände, die von Angela Merkel, aber auch SPD-Parteichef Sigmar Gabriel gratuliert, die Grünen-Fraktionschefs Jürgen Trittin und Renate Künast sowieso. Auch diesmal, wie schon nach seiner Wahl, sitzt Gauck ganz in ihrer Nähe. Und dann gratuliert ihm auch seine Lebensgefährtin. Gauck nimmt ihren Handschlag distanziert entgegen, zögert einen Moment, aber eine Umarmung, gar einen Kuss, gibt es nicht. Man hätte es den beiden sicher nicht übel genommen.