Analyse. Grüne im Kretschmann-Glück
Berlin (dpa) - Grenzenloser Jubel in der überfüllten Grünen-Zentrale in Berlin. Das hatten selbst die Optimisten in der Ökopartei nicht erwartet: Aber um 21.30 Uhr gibt es endlich Gewissheit. Der 62 Jahre alte Winfried Kretschmann wird als erster grüner Ministerpräsident Nachfolger von Stefan Mappus.
Unter ohrenbetäubendem Lärm schwenken Anhänger grüne Schilder mit dem Slogan „Zukunft gewinnt!“. Um 18.00 Uhr bricht bei der Grünen-Führung in der oben im Haus liegenden Pressestelle bei der Prognose erleichterter Jubel aus. 18 Minuten später versucht sich Parteichefin Claudia Roth unten in der Menge Gehör zu verschaffen. „In Baden-Württemberg haben die Wähler heute wirklich Geschichte geschrieben. Nach 58 Jahren ist die CDU abgewählt“ - dann muss sie im Applaus unterbrechen - „und so wie es jetzt aussieht (...) gibt es auch noch eine andere historische Zäsur in 31 Jahren grüner Geschichte, wenn wir nämlich in Baden-Württemberg einen grünen Ministerpräsidenten stellen.“ Roth beschwört die „grün-rote Zeitenwende“.
Die Parteichefin verspricht: „Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst.“ Die Grünen täten alles, um jetzt „seriöse Politik zu machen, glaubwürdige Politik zu machen“. Sie müsste nicht dazu sagen, dass sie neben Mappus auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Vizekanzler Guido Westerwelle (FDP) meint - tut es dann aber doch. Ein sichtlich aufgeräumter Kretschmann flimmert über die Großleinwand. Er sagt: „Insofern weht da schon ein bisschen der Atem der Geschichte in Baden-Württemberg.“ Die Leute hängen an seinen Lippen. Er hat lange dafür gekämpft - jetzt ist er der Mann der Stunde.
Zunächst rät der neue Grünen-Star zum Abwarten. Als die grün-rote Mehrheit in den Hochrechnungen etwas schmilzt und eine Mehrheit für Mappus wieder möglich scheint, mischt sich Bangen ins Hochgefühl. Roth warnt vor einem „Volksaufstand“ im Ländle für diesen Fall. „Es wird immer knapper“, ruft einer. Fraktionschef Jürgen Trittin, der gerade noch von einer „klaren Abstimmung über den Ausstieg“ aus der Atomkraft gesprochen hatte, wiegt den Kopf.
Andere plaudern schon entspannt. Die Grünen haben sich im Vergleich zu 11,7 Prozent 2006 in Baden-Württemberg mit 24,2 Prozent mehr als verdoppelt, in Rheinland-Pfalz nach 4,6 Prozent mit über 15 Prozent sogar mehr als verdreifacht. In Mainz werden sie aus dem Stand zu einem zahlenstarken Koalitionspartner von SPD-Ministerpräsident Kurt Beck.
Vor der neuen Rolle als Partei mit Ministerpräsident haben die Grünen gehörigen Respekt. Ein einflussreicher Grüner mahnt, unterm Mikroskop agiere man ab jetzt - jede kleine Bewegung registriere die Öffentlichkeit. Können die Grünen beweisen, dass sie mit dem Ökokonservativen Kretschmann seriöse, bezahlbare Politik hinkriegen? Trittin sagt: „Wir werden sparen müssen.“ Das habe man im Wahlkampf aber auch immer gesagt.
Die Umwälzungen für die Partei reichen weit über die Landesgrenzen hinaus. Erstmals seit dem Absinken in den Umfragen zu Jahresbeginn rechnen sie jetzt etwa wieder mit deutlichem Auftrieb für Renate Künast, die im Herbst Berlins SPD-Regierungschef Klaus Wowereit ablösen will. Künast sagt: „Das gibt grünen Rückenwind für Berlin.“ Über Koalitionen würden übrigens auch künftig die Inhalte entscheiden. „Insofern ist auch Grün-Schwarz nicht vom Tisch.“ Roth ruft später am Abend den Grünen-Fans zu: „Und dann packen wir die Hauptstadt mit Renate Künast.“
Schon fragen sich manche, ob es eher Fluch oder Segen ist, dass mit Kretschmann einer der größten Kritiker alter Zöpfe bei den Grünen plötzlich in die vielleicht wichtigste Position der Partei katapultiert werden könnte. Selbst vor der traditionellen Führungsstruktur der Grünen machte die Kritik des Querkopfs nie Halt, etwa wenn er einst sagte: „Ich habe diese Doppelspitze immer für den größten Blödsinn gehalten.“