Analyse: Historischer Schritt oder Symbolpolitik?
Frankfurt/Main (dpa) - Mario Draghi scheint zur Lösung der Dauerkrise im Euroraum jedes Mittel recht. Die Zinsen im Euroraum hat der Italiener in seiner Amtszeit an der EZB-Spitze quasi abgeschafft. Banken flutet die Notenbank in nie dagewesenem Ausmaß mit billigem Geld.
Und zumindest theoretisch schließen Europas Währungshüter keinen Tabubruch mehr aus: Käufe privater und öffentlicher Wertpapiere auf breiter Front, ein Kaufprogramm für Kreditverbriefungen.
Doch das Kernproblem bleibt: Letztlich kauft die Europäische Zentralbank (EZB) nur Zeit. Dauerhaftes Wachstum kann sie nicht herbeizaubern. Über Jahrzehnte angehäufte staatliche Schuldenberge verschwinden ebenso wenig über Nacht wie Unternehmen konkurrenzfähige Produkte auf den Markt bringen.
„Der Handlungsspielraum der EZB ist mehr homöopathisch“, urteilt der Wirtschaftsweise Peter Bofinger. „Wir haben ja schon eine Freibiersituation“, zitierte „Spiegel Online“ den Ökonomen kürzlich.
In der Tat bekommen Europas Banken frisches Geld seit Jahren fast zum Nulltarif. Seit Juli 2012 liegt der Leitzins, also der Zins zu dem sich Geschäftsbanken mit Zentralbankgeld versorgen, unter der magischen Ein-Prozent-Marke - seit diesem Donnerstag sogar bei eher symbolischen 0,15 Prozent.
Auch Berenberg-Chefvolkswirt Holger Schmieding hält die Schlagkraft der einmal mehr historischen EZB-Maßnahmen für überschaubar. Dass der Leitzins nun erneut sinkt, werde „die mittelfristigen Aussichten für Konjunktur und Inflation nicht in maßgeblicher Weise verändern“, kommentiert Schmieding.
Nach Überzeugung der öffentlichen Banken sind die Zinssenkungen zwar ein historischer Schritt - „der aber als effektlos in die Geschichtsbücher eingehen wird“, sagt Hauptgeschäftsführerin Liane Buchholz. Denn die Banken hätten kein Liquiditätsproblem: „Sie sind aber auch nicht bereit, auf diesem niedrigen Zinsniveau noch ins Risiko zu gehen.“
Und ob sich Banken durch Strafzinsen auf das Geld, das sie bei der EZB parken, zur Kreditvergabe zwingen lassen, ist zumindest umstritten. Ökonomen befürchten, dass die Banken die Strafgebühr auf ihre Kunden abwälzen könnten. Sparkassen-Präsident Georg Fahrenschon beruhigt: „Wir werden das sicher nicht an unsere Kunden weitergeben. Wir können den Sparern nicht sagen: Jetzt musst Du für Dein Vermögen auch noch Strafe zahlen.“
Ohnehin dürfte der Effekt der Strafzinsen minimal sein, glaubt Experte Johannes Mayr von der BayernLB. Denn viele betroffene Banken hielten die überschüssige Liquidität vor allem als Puffer. Daran werde der leicht negative Einlagezins kaum etwas ändern: „Die befürchteten negativen Effekte auf Haushalte und Unternehmen in Form von negativen Spar- und Einlagezinsen oder einem Anstieg der Kreditzinsen dürften somit gering bleiben.“
Die meisten Experten - auch die EZB selbst - erwarten, dass sich die Wirtschaft im Euroraum mittelfristig allmählich erholen und die Inflation sich wieder der EZB-Zielmarke von 2,0 Prozent annähern wird. Das wird allerdings nach den neuesten EZB-Prognosen nicht bis mindestens 2016 geschehen.
Bofinger betont, um die Wirtschaft im Euroraum zu beleben, sei weniger die Geldpolitik als vielmehr die Finanzpolitik gefordert. Da kann sogar Draghi zustimmen: Die Bürger verlangten Wohlstand, Jobs und Wachstum, sagte der Währungshüter vergangene Woche bei der ersten großen Denker-Konferenz der EZB im portugiesischen Sintra: „Europas Regierungen müssen hier mehr liefern.“
Allein: Die Mühlen in Brüssel und andernorts in Europa mahlen Draghi ganz offensichtlich zu langsam. Fakt ist: Ohne das beherzte Einschreiten der EZB und anderer führender Notenbanken weltweit hätte die Finanzkrise der Jahre 2008/2009 noch dramatischere Spuren hinterlassen. Fakt ist auch: Mit wenigen Worten bewahrte Draghi die Eurozone im Sommer 2012 vor dem Kollaps. Sein „Whatever it takes“ („Die EZB ist bereit, im Rahmen ihres Mandats alles zu tun, was nötig ist, um den Euro zu retten.“) habe „die Märkte nachhaltig beruhigt“, lobte IWF-Chefin Christine Lagarde Mitte Mai im „Handelsblatt“-Interview: „Er hat auf eine sehr geschickte Art und Weise die richtigen Worte zur richtigen Zeit gefunden.“
Ob der erneute Feuerwehreinsatz der EZB richtig ist, bleibt heftig umstritten. Während Banken und Aktienmärkte das billige Geld feiern, zahlen Sparer die Zeche. Sparkassen-Präsident Fahrenschon rechnete vor, allein in Deutschland verlören Sparer, die fürs Alter vorsorgen, 15 Milliarden Euro: „Das sind vom Baby bis zum Großvater 200 Euro pro Kopf. Und das ungefragt. Und das Geld fehlt. Es ist weg.“
Der Frankfurter Ökonom Thorsten Polleit warnt vor weiteren Risiken des billigen Geldes: „Die verzerrten Zinsen blähen die Preise für Aktien, Anleihen und Grundstücke auf, es kommt zu spekulativen Blasen“, sagte Polleit „Handelsblatt Online“. Mario Draghi indes schafft Fakten - in der Hoffnung, dass die Rechnung am Ende aufgeht.