Analyse: In Chicago demonstriert das andere Amerika

IChicago (dpa) - Ausgerechnet im Grant Park finden die Proteste statt. Dort, wo Barack Obama vor vier Jahren seinen Wahlsieg gefeiert hatte. Wo der erste schwarze Präsident der USA Hoffnungen und Erwartungen zuhauf geschürt hatte.

„Ich dachte damals, jetzt beginnt eine neue Zeit“, erzählt Richard, 68 Jahre alt und früher Sozialarbeiter. „Und jetzt? Wo stehen wir jetzt?“ fragt der Mann mit dem dichten, weißen Bart an diesem Tag der Proteste in Chicago. „Wir sind kein Stück weiter gekommen. Wir sind enttäuscht.“

Es ist eine bunte Schar, die in Chicago, der Heimatstadt Obamas, am Sonntag auf die Straße geht. Kriegsgegner und Globalisierungsskeptiker, Kommunisten und Sozialisten, Gruppen und Grüppchen, von denen man kaum zu glauben vermag, dass es sie wirklich gibt. „Revolutionary Communist Party, USA“ zum Beispiel. Motto: „Die Menschheit braucht Revolution“.

„War Criminal Summit“, nennt die Splittergruppe übrigens das Nato-Treff hier in Chicago - Gipfel der Kriegsverbrecher. Harte Töne - in Amerika ist so etwas vom „First Amendment“ geschützt, dem ersten Verfassungszusatz. Kein anderes Land erlaubt so viel Redefreiheit. Auch ein schwarzer Block vermummter Anarchisten ist dabei.

Friedlich verläuft der mehrstündige Demonstrationszug durch die Stadt. Heiß und schwül ist es, vom Michigansee ziehen dunkle Gewitterwolken auf. Doch richtig hieß geht es erst nach dem offiziellen Ende der Demo zu.

Ohne Wenn und Aber geht die Polizei gegen den einen Block von Demonstranten vor, kesselt die jungen Leute ein. Mehrere Verletzte und mehrere Festnahmen, melden lokale Medien aufgeregt. „Lesen Sie die Verfassung“, schreit eine wutentbrannte junge Frau der Wand aus Polizisten entgegen.

Knallhart sind auch die Parolen mancher Teilnehmer: „Töte eine Person - und es ist Mord. Töte Hunderttausende - und es ist Außenpolitik!“ steht auf einem Plakat, das der 30-jährige Industriearbeiter Wes Hadem hochhält.

„Sie marschieren in den Irak ein und danach kommen Konzerne und verdienen Milliarden“, schimpft der junge Mann hinter der dunklen Sonnenbrille. Sein Kumpel hält ein anderes Plakat in die Höhe: „Milliarden für Jobs, nicht für Besatzung. Beendet die US-Hilfen für Israel.“

15 000 Demonstranten ziehen nach Angaben der Veranstalter durch die Stadt zum McCormick Conference Center, an dem die Staats- und Regierungschefs der „Kriegsmaschine Nato“ tagen. Die Stimmung ist aufgeheizt. An der Spitze marschiert ein gutes Dutzend US-Veteranen in Uniform, Männer mit tätowierten Armen und harten Gesichtern.

„Ich habe mehr Gewalt in meinem Leben gesehen als jeder andere von Euch“, berichtet ein Ex-Ranger. „Die Probleme der Welt sind nicht mit Gewalt zu lösen“, sagte er. Jetzt wirft er demonstrativ am Konferenzort der Nato-Tagung seine militärischen Auszeichnungen auf die Straße - eine schwere Provokation im patriotischen Amerika.

„Ich habe nur ein einziges Wort für den Krieg gegen den Terror - Schande“, empört sich sein Kamerad Jacob George aus Arizona, der ebenfalls die Medaillen von seiner Uniform reißt.

Jeder hat eine Geschichte zu erzählen, aber es ist immer wieder das gleiche Lied. Es handelt von „Amerika, das nur noch in Sachen Militär Nummer eins ist in der Welt“, wie ein junger Mann sagt, der seinen Namen nicht nennen will.

„Es gibt Milliarden für Kriege und Waffen, aber für Erziehung ist nichts übrig.“ „Und die Infrastruktur verkommt, die Straßen werden immer schlechter, Brücken stürzen ein“. „America in decline“ - Amerika im Niedergang, nennt das Richard, der Sozialarbeiter.

Es ist das andere Amerika, das hier zur Wort kommt. Das Amerika der Linken, der Enttäuschten und der Minderheiten, die ansonsten keinen Eingang in den Mainstream der Medien finden.

Im Unterschied zu Deutschland und Europa gibt es im Zwei-Parteien-Staat der USA keinen Platz für kleine Parteien. Es gibt keine dauerhaft wahrnehmbaren Grünen, keine Linke, keine Piraten, die Proteste und Unzufriedenheit aufnehmen und kanalisieren.

„Viele Grüße an Lafontaine“, meint denn Adam Shels (57) von der American Socialist Movement, einer anderen Splitterpartei, die kaum ein Amerikaner kennt, an die Adresse des deutschen Linke-Politikers. „Wir wollen der Welt zeigen, dass es auch in Amerika eine mächtige Arbeiterbewegung gibt.“